|Rezension| Über uns – Eshkol Nevo

von | März 14, 2019 | 0 Kommentare

Psychoanalyse unterhaltsam verpackt 

Verlag: dtv
Originaltitel: Shalosh komot
Übersetzung: Markus Lemke
Gebundene Ausgabe: 20,00 Euro
Ebook: 15,99 Euro
Erscheinungsdatum: 12.01.2018
Seiten: 320

„Es gibt Lichtblicke, Glücksmomente aber alles in allem laufe ich jetzt schon seit acht Jahren als wandelnde Sprengfalle durch die Gegend – ja, das ist das richtige Bild -, schleppe den Sprenggürtel meiner Hoffnung mit mir herum, die Aufgabe meistern zu können, an der meine Mutter gescheitert ist. Und in der Zwischenzeit bedeckt mich der Staub der Zeit, Neta. Ja, ich lasse mich darunter begraben. Ich weiß, das ist eine abgedroschene Metapher, aber ich bin auch abgedroschen. Habe keine Kraft mehr, unbeschwerte Fröhlichkeit vorzugaukeln, die mir abhanden gekommen ist.“ (S.149)

Inhalt

Ein Haus, drei Etagen und jede Menge Geheimnisse

Arnon und Ayelet haben seit der Schwangerschaft Probleme mit dem Sex. Damit die Dinge wieder ins Lot kommen zwischen ihnen, passen Ruth und Hermann, das reizende ältere Ehepaar von nebenan, gern auf ihre kleine Tochter auf. Ein Stockwerk drüber hadert Chani Doron, die »Witwe« (ihr Mann ist ständig auf Geschäftsreise), mit ihrem Leben und Dvorah Edelman, ehemalige Richterin und tatsächlich verwitwet, träumt in der obersten Etage nachts davon, ihr Über-Ich werde amputiert. Lügen und Selbsttäuschung durchdringen Alltag und Familienleben. Nevo wirft Licht in die dunklen Winkel der menschlichen Natur und ist seinen Figuren zugleich mitfühlender Freund. Einfach davonkommen aber lässt er sie nicht …

Mein Eindruck

Nevo beleuchtet in “Über uns” die dunklen Winkel dreier Menschen, die als Nachbarn in einem Haus wohnen, davon abgesehen aber keine Verbindung zueinander haben. Dabei blickt er hinter die Fassade einer scheinbar perfekten Vater-Mutter-zwei Kinder-Familie, einer Mutter zweier Kinder, deren Mann kaum anwesend ist und einer verwitweten Richterin. Im Wesentlichen geht es um Konflikte innerhalb verschiedener Beziehungen, die ein Spiegel unserer Gesellschaft sind. Und dabei spielt es keine große Rolle, dass dieses Buch seinen Schauplatz in Isreal (genauer in Tel Aviv) und nicht in Deutschland hat, denn die Konflikte, um die es hier geht, sind kulturell unabhängig.

Aufgebaut ist der Roman in drei große Kapitel, so dass jede/r Protagonist/in sein/ihr eigene Geschichte erzählen kann, was er/sie aus der Ich-Perspektive tut. Der Leser bekommt so zwar eine genaue Vorstellung von den Gedanken und Gefühlen der drei Hauptfiguren, von Nebencharaktere bekommt man dadurch allerdings nur eindimensionalen Eindruck. 

Als Leser ist man geneigt, schnell ein Urteil über Arnon, Chani und Dvorah zu fällen, aber Nevo forciert das keineswegs. Vielmehr liefert er in “Über uns” eine faszinierende, feinsinnige und wertfreie Charakterstudie ab, die dazu führt, dass man seine vorschnell gefasste Meinung alsbald revidieren muss und am Ende jeder Geschichte so ein eindrückliches Bild von den drei Figuren hat, das man sie so schnell nicht vergisst.

Das wären allein schon ziemlich viele Gründe diesen Roman zu lesen, aber der Clou an “Über uns” ist, wie Nevo seine Geschichte in das Gerüst des Strukturmodells der Psyche von Sigmund Freud verpackt. Er spricht dieses in seinem Roman selbst an, sonst wäre mir das wohl nicht aufgefallen, aber rückblickend wird die Geschichte so zu einem großen, genialen Ganzen, denn die Probleme der drei Figuren, die übereinander (!) in einem Haus wohnen, stehen sinnbildlich für das Es, Ich und Über-Ich. Auf der untersten Ebene und damit in der ersten Etage ist das Es – der Sitz Triebe, Bedürfnisse und Affekte. Auf der zweiten Etage ist das Ich: jene Instanz, die dem bewussten Denken des Alltags, dem Selbstbewusstsein entspricht. Ganz oben thront das Über-Ich, in dem soziale Normen, Werte, Gehorsam, Moral und das Gewissen angesiedelt sind. Jemand sagte mir kürzlich, dass er den Eindruck hätte, bei Freud ginge es im Wesentlichen immer um Triebverzicht – das trifft den Kern dieses Buches ziemlich gut, denn auch bei Nevos drei Protagonisten geht es darum, ob bzw. wie man auf bestimmte Triebe verzichten kann bzw. was passiert, wenn man es nicht tut.

Wenn man sich für Psychologie interessiert, wird man “Über uns” vor diesem Hintergrund doppelt spannend finden. Aber auch für Leser, die keinen Bezug zu diesem Themenfeld haben, sich dafür im Allgemeinen für Menschen und ihre Schattenseite interessieren, wird dieser Roman eine Offenbarung sein. Dabei schreibt Nevo aber keinesfalls pädagogisch oder belehrend, sondern schlicht von drei Menschen, die versuchen trotz diverser Widrigkeiten, ihr Leben auf die Reihe zu bekommen.

Mir haben die zweite und dritte Geschichte am besten gefallen. Vielleicht weil es die Geschichten der beiden Frauen sind und ich mich als Frau leichter in sie hineinversetzen kann? Vor allem aber auch, weil sie im Vergleich zur ersten Geschichte mehr Tiefe hatten und mich dadurch mehr berührt haben.

Mein Fazit:

Eshkol Nevos Blick hinter die Wohnungstüren und Seelen deren Bewohner steht sinnbildlich für unsere Gesellschaft, in der niemand frei ist von moralischen Verfehlungen, mit denen es umzugehen gilt. Dies kann auf sehr unterschiedliche Weise geschehen, wie in “Über uns” eindrucksvoll am Beispiel von drei Figuren gezeigt wird. Das dem Roman zugrundeliegende Freudsche Strukturmodell der Psyche macht dieses Buch zu einem besonderen Highlight unter den belletristischen Psychogrammen.

Vielen Dank an dtv für dieses Rezensionsexemplar.
 
 
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