|Rezension| Der Papierpalast – Miranda Cowley Heller
Ein Roman, der gleichermaßen verstörend und gut ist
„Wir schleppen die Vergangenheit hinter uns her wie ein Gewicht, an das wir gefesselt sind, aber weil es so weit hinter uns liegt, müssen wir es nie zur Kenntnis nehmen, müssen nie offen zugeben, wer wir einst waren.“ (S.371)
Inhalt
Elle Bishop, 50, glücklich verheiratet, steht vor einer großen Entscheidung: Bleibt sie bei ihrem Ehemann oder verlässt sie ihn und ihre Familie für ihren Jugendfreund, mit dem sie eine unvergessliche Nacht verbracht hat. Sie hat nur einen Tag Zeit, um herauszufinden, wer sie im Leben sein will und mit wem sie es verbringen möchte. Im Papierpalast, dem Sommerhaus der Familie, steht sie vor der Frage, welche Art des Glücks sie wählen wird. Ein großer Roman über die Sommer unseres Lebens ― und darüber, was es heute bedeutet, eine Frau zu sein.
Mein Eindruck
Um den “Papierpalast” bin ich schon seit dem Erscheinen geschlichen und habe ihn mir schließlich Ende 2023 spontan als Taschenbuch gekauft. Er war das erste Buch von meinen #12für2024 und eigentlich wollte ich es nach 30 Seiten wieder abbrechen. Ich empfand das Gelesene als zu heftig, hatte etwas anderes erwartet. Die Rahmenhandlung ist schnell erzählt: Eine Frau, Elle, hat eines Abends im Sommerhaus der Familie einen One Night Stand mit ihrem besten Freund. Sie bleiben unentdeckt, aber Elle steht am nächsten Morgen vor der Frage: Wie nun weiter?
Die Geschichte wird im Folgenden auf zwei Ebenen erzählt: Das Hier und Jetzt geht weiter, in dem Elle mit ihrer Familie, Jonas, dem Mann mit dem sie geschlafen hat und der seit Kindertagen ihr bester Freund ist, sowie dessen Frau Urlaub macht. Die zweite Ebene ist Elles Vergangenheit. Der Leser bekommt Einblicke in das Leben von Elles Großmutter, ihrer Mutter, Elles Kindheit und Jugend. Dabei ist ein Detail verstörender als das andere. Mir erging es beim Lesen wie mit einem Autounfall, an dem man vorbeifährt. Man weiß, der Anblick wird schrecklich sein, aber man muss trotzdem kurz hinschauen. Immer wieder dachte ich “Ich kann das nicht weiterlesen.”, aber es überwog letztlich die Neugier, Elles Handlungen nachvollziehen zu können und natürlich wollte ich auch wissen, wie sich die Dreiecksgeschichte zwischen Elle, ihrem Mann Peter und Jonas auflöst.
Wer zum “Papierpalast” greift und eine dramatische Dreiecksgeschichte erwartet, wird enttäuscht sein. Vielmehr ist dieses Buch eine Familiengeschichte, bei der Miranda Cowley Heller sehr geschickt viele Fäden mit verstörenden Details aus dem Leben ihrer Protagonistin verknüpft und dies auf eine derart nüchterne und rücksichtslose Weise, dass ich das Buch öfter zur Seite legen musste, obwohl ich wissen wollte, wie es weitergeht. Fasziniert hat mich beim Lesen vor allem, mit welcher Stärke und Widerstandsfähigkeit die Autorin ihre Hauptfigur ausgestattet hat, an der jedes noch so schreckliche Ereignis vermeintlich abzuprallen scheint. Einerseits erschien mir das unglaubwürdig: Wie kann ein Mensch, dem so viel Schlimmes widerfährt, nicht vollkommen daran zerbrechen? Stattdessen führt Elle ein vermeintlich glückliches Leben mit Peter, ihren Kindern und ihrer Mutter. Aber ist sie wirklich glücklich? Oder ist es eine Fassade, die sie aufrecht erhält? Diese Frage wird am Ende beantwortet – auf eine spektakuläre leise Art und Weise.
Letztlich muss man eins wissen, um nicht – wie ich – mit falschen Erwartungen an das Buch heranzugehen: “Der Papierpalast” ist keine Liebesgeschichte, sondern eine Geschichte über die Schatten der Vergangenheit, die uns zu dem Menschen machen, der wir sind – ein spannendes Thema, das Miranda Cowley Heller durchaus fesselnd aufbereitet.
Mein Fazit:
Ist dieses Buch eine Wohlfühllektüre? Nein. Muss man es ganz unbedingt lesen? Nein. Ist es trotzdem ein gutes Buch? Auf eine verstörende Weise ja, denn es ist verdammt gut erzählt – mit einem wirklich perfektem Ende, das nicht vorhersehbar ist.