|Rezension| Mama und Sam – Sarah Kuttner
Ein Roman über eine Mutter, die wissen wollte, was Liebe ist und über eine Tochter, die versucht, das zu verstehen.
„Ich war ziemlich beeindruckt und gleichzeitig unbefriedigt, weil mir schon seit Jahren dünkt, dass jeder Aggressor, jeder Schuldige, oft selbst nur Opfer eines anderen Aggressors ist. Und damit zu Teilen unschuldig. Für mich bedeutet das immer, dass ich keinen Ort habe, an dem ich Schmerzen äußern durfte. Man darf seine Schmerzen nicht auf jemanden abladen, der selber Schmerzen hat.“ (S.51)
Inhalt
Eine Tochter steht in der Wohnung ihrer plötzlich verstorbenen Mutter. Die Mutter ist fort, ihre gesamten Ersparnisse auch. Was bleibt, sind Fragen: Warum ist die Wohnung so chaotisch, der Briefkasten so voll? Und wie ist es überhaupt möglich, seine eigene Mutter an einen Heiratsschwindler zu verlieren?
Sarah Kuttner erzählt die Geschichte einer Frau, die Liebe suchte und auf einen Love Scammer traf. Die sich verliebte und die Augen verschloss. Die nichts zurückließ, außer einem schier endlosen Chat mit dem Betrüger. Vor allem aber ist es die Geschichte einer Tochter, die zurückbleibt, mit einer Leerstelle, wo einmal die Mutter war.
Also liest die Tochter die Nachrichten, die nicht für sie bestimmt waren, liest Dinge über sich selbst, die sie nie wissen wollte. Und doch, ganz langsam, füllt sich die Leerstelle mit einer Nähe, wie sie beiden zu Lebzeiten nicht möglich war.
Mein Eindruck
Vorab: Ich bin seit Jahren ein Sarah Kuttner Fangirl und habe mich riesig gefreut, als nach 6 Jahren ein neuer Roman von ihr angekündigt wurde. Ich habe sie als Moderatorin bei Viva geliebt, alle ihre Bücher gelesen und mittlerweile 4 Oakling Pullis im Kleiderschrank. Dass sie sich in “Mama & Sam” dann auch noch eine tote Mutter und Love Scamming zum Thema macht, war beinahe schicksalhaft. Ohne hier ins Detail gehen zu wollen: Ich fühle vieles in diesem Buch sehr. Der Vorgänger-Roman “Kurt” war ja schon “schlimm”, im Sinne von “sehr emotional”. Aber “Mama und Sam” hat mich aufgrund der vielen Parallelen in meinem Leben noch mehr berührt.
Ich wusste zwar bereits, dass Sarah Kuttners Mutter gestorben ist und ahnte deshalb, dass sie deren Tod im Roman verarbeitet. Was ich aber zum Zeitpunkt des Lesens noch nicht wusste, ist die Tatsache, dass auch das Love Scamming ihrer Mutter tatsächlich widerfahren ist. Vor diesem Hintergrund möchte ich dieses Buch ganz unbedingt auf einen Thron heben. Denn wie mutig ist es bitte, der Leserschaft so tiefe Einblicke in die eigenen Erfahrungen und Gefühle zu geben? Ich möchte, dass es jeder liest und sich mit der Thematik auseinandersetzt, auch wenn es weh tut.
Trotz Sarah Kuttners gewohnt “schnoddrigen” Tons (den ich sehr, sehr mag!) und ihrem großartigen Humor hatte ich durchaus beinahe körperliche Schmerzen beim Lesen. In “Mama und Sam” gewährt die Autorin einen schonungslos ehrlichen Einblick in die perfiden Machenschaften von Love Scammern. Durch Chatverläufe, die zeigen, wie skrupellos diese Menschen vorgehen – erst emotional binden, dann immer wieder manipulieren und erpressen – bekommt man auch eine Ahnung davon, wie ihre Opfer überhaupt in diese Falle geraten.
Auch ich war lange jemand, der dachte, man könne doch nicht „so blöd“ sein, auf so etwas hereinzufallen. Doch das Buch zeigt, dass es eigentlich nur eines braucht: eine einsame Person, die sich nach Liebe sehnt. Die Mutter in “Mama & Sam” übersieht (teilweise bewusst) alle Red Flags, lässt sich weder von ihrer Tochter noch von ihrer Schwester eines Besseren belehren und isoliert sich stattdessen immer mehr. Wie Sarah Kuttner die Hilflosigkeit der Tochter beschreibt, hat mich tief berührt. Sie sieht zu, wie die Mutter sehenden Auges in ihr Unglück rennt – und kann nichts tun.
Auch wenn der Fokus klar auf dem Thema Love Scamming liegt, greift der Roman viele weitere wichtige Themen auf: die schwierige Mutter-Tochter-Beziehung, den Umgang mit dem Tod eines Menschen, zu dem man ein ambivalentes Verhältnis hatte, die ADHS-Diagnose der Tochter im Erwachsenenalter – und nicht zuletzt die Liebesbeziehung der Erzählerin zu ihrem Partner (und zu ihrem Hund).
Das Ende hat mich sehr bewegt. Ohne zu spoilern: Ich kann mir nur im Ansatz vorstellen, wie verdammt schwer es für Sarah Kuttner gewesen sein muss, nach dem Tod ihrer Mutter diese Geschichte aufzuschreiben und so ehrlich aufzuarbeiten. Aber es hat sich gelohnt – sicher nicht nur für sie selbst (das ist der kleine Spoiler), sondern auch für alle, die diesen Roman lesen.
Mein Fazit:
“Mama & Sam” ist eines dieser Bücher, das man – einmal gelesen – nie wieder vergisst. Es ist schmerzhaft, macht wütend, zugleich ist es aber auch tröstlich und lustig. Sarah Kuttner schafft es, aus persönlichem Leid etwas Universelles zu formen: eine Geschichte über das was bleibt, wenn jemand geht, über das Gefühl der Schuld und über den Wunsch, geliebt zu werden. Ihr Roman ist auch ein Appell an Empathie und ein Aufruf, genau hinzusehen, bevor es zu spät ist.