|Rezension| Da, wo ich dich sehen kann – Jasmin Schreiber
Literatur gegen das Wegsehen: „Da, wo ich dich sehen kann“
„Trauer hat die unangenehme Eigenschaft, einen einzukapseln und irgendwie abzuspalten von allen anderen. Es ist ein zutiefst persönliches Gefühl, das eine Art unsichtbare Membran um einen zieht. Man kann die anderen zwar sehen, kann sie auch durch die Membran berühren, aber nicht wirklich.“ (S.179)
Inhalt
Die neunjährige Maja wächst in einer zerrütteten Familie auf – ein tyrannischer Vater, eine liebevolle, aber unterdrückte Mutter, dazwischen viel Schweigen und Dinge, die ihr keiner erklärt. Als Frank, Majas Vater, ihre Mutter tötet, reißt er ein Loch in die Welt – für Maja, aber auch für alle anderen, die zurückbleiben.
Von einem Moment auf den anderen ist nichts mehr, wie es war: Zwischen Trauer, Sorgerechtsstreit und Bürokratie wird Maja zum Spielball und verliert inmitten von Anträgen und Zuständigkeiten ihre Familie, ihr Zuhause, das Gefühl von Sicherheit und die Gewissheit, zu wem sie gehört.
Ihre Patentante Liv wird Majas einziger Lichtblick: Liv arbeitet als Astrophysikerin und begeistert Maja für die Wunder des Universums. Gleichzeitig ringt sie mit eigenen Unsicherheiten, alten Ängsten und der Überforderung, plötzlich Verantwortung übernehmen zu müssen. Und doch wachsen Liv und Maja zusammen: beim Blick durchs Teleskop und beim Versuch, im endlosen Weltraum Antworten zu finden, die ihnen niemand sonst geben kann.
Mein Eindruck
Ich habe ungewöhnlich lange gebraucht, um „Da, wo ich dich sehen kann“ zu lesen. Nicht, weil mich der Roman nicht gefesselt hätte oder schlecht geschrieben wäre – ganz im Gegenteil. Sondern weil das Lesen so sehr weh tat. Diese Geschichte war für mich nur in kleinen Häppchen zu ertragen.
Nun ließe sich die berechtigte Frage stellen: Warum liest man überhaupt ein Buch, das so schmerzt? Sollte Lesen nicht vor allem Spaß machen? Für mich hängt das stark davon ab, mit welchen Erwartungen man an eine Lektüre herangeht. Ein Buch darf mich glücklich machen, zum Lachen bringen – aber es ist für mich genauso wertvoll, wenn es mich traurig macht. Hauptsache, es löst etwas in mir aus. Wer beim Lesen von „Da, wo ich dich sehen kann“ nichts spürt, spürt vermutlich auch sonst nicht allzu viel. Denn dieser Roman ist mit Abstand der schmerzhafteste, den ich seit Langem gelesen habe.
Jasmin Schreiber erzählt darin von den Angehörigen einer Frau, die Opfer eines Femizids wurde und davon, wie sie mit dieser Tat weiterleben (müssen). Zu Wort kommen unter anderem die neunjährige Tochter, die beste Freundin sowie die Eltern des Opfers, später auch die Eltern des Täters. Zudem gibt es einen erzählerischen Kniff, den ich nicht vorwegnehmen möchte, der der Geschichte jedoch eine zusätzliche, kaum auszuhaltende Tragik verleiht.
Allein der Mut, sich literarisch an dieses Thema heranzuwagen, verdient großen Respekt. Dass Jasmin Schreiber es dabei so sensibel, so klar und zugleich nicht hoffnungslos umsetzt, ist bemerkenswert. Dieser Roman interessiert sich nicht für den Täter, nicht für Details der Tat oder für Motive, wie man es aus True-Crime-Formaten kennt. Stattdessen rückt er konsequent das Opfer und die Zurückgebliebenen in den Mittelpunkt.
Wie lebt ein Kind weiter, dessen Vater die Mutter getötet hat? Wie gehen Eltern damit um, dass der Schwiegersohn, den man mochte und dem man vertraute, zum Mörder der eigenen Tochter wurde? Welche Schuldgefühle quälen eine beste Freundin, die rückblickend glaubt, die Zeichen übersehen zu haben? Diese Fragen stehen im Zentrum und sie lassen einen nicht mehr los.
Der Roman sensibilisiert dafür, genauer hinzusehen: bei Frauen, die sich „ständig stoßen“ oder „immer wieder gegen den Türrahmen laufen“. Er macht bewusst, wie häufig häusliche Gewalt im Verborgenen stattfindet und wie schwer es für Betroffene ist, ohne Unterstützung von außen einen Ausweg aus der Gewalt zu finden. Dieses Buch klagt nicht an, es schreit nicht. Gerade darin liegt seine enorme Kraft.
Mein Fazit:
Ich habe „Marianengraben“ von Jasmin Schreiber sehr geliebt, doch „Da, wo ich dich sehen kann“ hat mich noch tiefer getroffen. Dieser Roman geht unter die Haut, setzt sich fest und lässt einen verändert zurück. Ich wünsche mir, dass möglichst viele Menschen dieses Buch lesen. Nicht nur wegen des wichtigen Themas, sondern auch, weil Jasmin Schreiber einen einzigartigen, würdevollen und zutiefst menschlichen Umgang damit gefunden hat. Ein schmerzhaftes, notwendiges und außergewöhnlich starkes Buch. Definitiv ein Highlight in diesem Lesejahr!