|Rezension| Normale Menschen – Sally Rooney
Heißer Kandidat auf mein Buch des Jahres!
„Sich länger mit dem Anblick von Connells Gesicht zu beschäftigen, bereitet Marianne immer eine gewisse Freude, die mit jeder beliebigen Anzahl anderer Gefühle abgewandelt werden kann, abhängig von dem sorgfältig austarierten Zwischenspiel aus Gespräch und Laune. Sein Aussehen ist für sie wie ein Lieblingssong, der jedes Mal, wenn sie ihn hört, ein wenig anders klingt.“ (S.269f.)
Inhalt
Die Geschichte einer intensiven Liebe: Connell und Marianne wachsen in derselben Kleinstadt im Westen Irlands auf, aber das ist auch schon alles, was sie gemein haben. In der Schule ist Connell beliebt, der Star der Fußballmannschaft, Marianne die komische Außenseiterin. Doch als die beiden miteinander reden, geschieht etwas mit ihnen, das ihr Leben verändert. Und auch später, an der Universität in Dublin, werden sie, obwohl sie versuchen, einander fern zu bleiben, immer wieder magnetisch, unwiderstehlich voneinander angezogen. Eine Geschichte über Faszination und Freundschaft, über Sex und Macht.
Mein Eindruck
Endlich! Endlich hat mich ein Roman mal wieder von der ersten Seite an abgeholt, mich emotional in die Geschichte eingebunden und nachhaltig bewegt. Mehr muss man doch eigentlich über “Normale Menschen” gar nicht wissen, oder?
Ich möchte trotzdem versuchen, zu erklären, worin genau das Besondere dieses Buches liegt. Fangen wir beim Titel an: “Normale Menschen” impliziert eine Geschichte über eben jene Spezies. Aber wie definiert man normale Menschen? Was ist normal? Was ist unnormal? Sally Rooney setzt sich mit dieser Frage auseinander, indem sie exemplarisch an einer Beziehung oder auch Nicht-Beziehung zweier junger Menschen aufzeigt, dass auch etwas, das für Außenstehende nicht der Norm entspricht, für die Betroffenen “normal” sein kann.
Konkret geht es um Marianne und Connell, die gemeinsam zur Schule gehen und sich näher kommen, als Connell seine Mutter, die die Haushälterin von Mariannes Familie ist, regelmäßig von der Arbeit abholt. Beide könnten nicht unterschiedlicher sein, trotzdem werden sie nicht nur zu Beginn, sondern auch in den kommenden Jahren, als sie die gleiche Universität besuchen, immer wieder wie Magnete voneinander angezogen. Gleichermaßen wie Magnete stoßen sie sich aber auch regelmäßig voneinander ab. Anders als z.B. bei “Zwei an einem Tag” ist dies aber kein klassischer “Kommen sie nach allen Irrungen und Wirrungen am Ende nun zusammen?”-Liebesroman. Vielmehr geht es um die beiden Charaktere als Individuen, ihre Entwicklung und ihre Verbindung zueinander.
Besonders beeindruckend ist, mit welcher unprätentiösen Sprache, die sich durch häufige wörtliche Rede auszeichnet, Sally Rooney ihre Geschichte erzählt. Sie schildert immer nur Momentaufnahmen und erzählt nicht linear. So ist kein Wort zu viel, blumige Metaphern sind unnötig, um das Erzählte auszuschmücken. Die Anziehungskraft zwischen den beiden Protagonisten steht für sich und ist zu jederzeit spürbar. Sie ist der Kern ihrer Beziehung, bedarf keiner Analyse oder weitschweifigen Erläuterungen. Auch wenn die Beziehung, die die Beiden haben, weitläufig nicht als „normal“ eingestuft werden wird, ist sie die Normalität beider. Sally Rooney wertet nicht, sondern zeigt vielmehr, dass es im 21. Jahrhundert vielfältige Beziehungsformen gibt, die keiner Wertung von außen bedürfen, weil einzig entscheidend ist, was die jeweils Beteiligten fühlen und brauchen.
Marianne und Connell machen im Laufe der erzählten Zeit auch unabhängig voneinander eine beeindruckende Entwicklung durch – gerade weil ihre Beziehung zueinander nicht geradlinig verläuft. Sie können nicht mit-, aber auch nicht ohne einander und suchen jeder für sich einen Weg, dieses Dilemma zu ihren Gunsten zu nutzen.
Normalerweise habe ich nach dem Lesen eines richtig guten Romans immer einen Blues, weil das Buch zu Ende ist und ich sicher bin, dass das folgende nur schlechter sein kann. Aber dieses Mal konnte ich dem mit einem Besuch in der Buchhandlung entgegenwirken: Ich habe mir Rooneys Erstling “Gespräche mit Freunden” gekauft und freue mich darauf, erneut von einer anderen Geschichte dieser wunderbaren Autorin begeistert werden zu können.
Mein Fazit:
Sally Rooneys „Normale Menschen“ hat großes Potenzial mein Buch des Jahres 2020 zu werden. Die Schilderung einer modernen Liebe in einer klaren Sprache hat mich durch ihre Tiefe und Authentizität nicht nur während des Lesens, sondern auch danach stark beeindruckt. Marianne und Connell sind als Figuren lebendig geworden, ihre Emotionen sind mir nahe gegangen. Selten hat mich die Entwicklung zweier Charaktere so bewegt. Ich liebe es ja, Menschen Bücher zu empfehlen. „Normale Menschen“ möchte ich aber nicht empfehlen, ich möchte es befehlen! Lest dieses Buch!!!