|Rezension| Über Menschen – Juli Zeh

von | Feb. 15, 2022 | 0 Kommentare

“Über Menschen” = Über das Menschsein

Verlag: Luchterhand
Gebundene Ausgabe: 22,00 Euro
Ebook: 14,99 Euro
Erscheinungsdatum: 22.03.2021
Seiten: 417

„Dora fragt sich, ob Jojo glücklich ist. Sie vermutet, dass sein Trick darin besteht, sich diese Frage nicht zu stellen. Wer kein Glück verlangt, wird nicht mit Unglück bestraft.“ (S.391)

Inhalt

Dora ist mit ihrer kleinen Hündin aufs Land gezogen. Sie brauchte dringend einen Tapetenwechsel, mehr Freiheit, Raum zum Atmen. Aber ganz so idyllisch wie gedacht ist Bracken, das kleine Dorf im brandenburgischen Nirgendwo, nicht. In Doras Haus gibt es noch keine Möbel, der Garten gleicht einer Wildnis, und die Busverbindung in die Kreisstadt ist ein Witz. Vor allem aber verbirgt sich hinter der hohen Gartenmauer ein Nachbar, der mit kahlrasiertem Kopf und rechten Sprüchen sämtlichen Vorurteilen zu entsprechen scheint. Geflohen vor dem Lockdown in der Großstadt muss Dora sich fragen, was sie in dieser anarchischen Leere sucht: Abstand von Robert, ihrem Freund, der ihr in seinem verbissenen Klimaaktivismus immer fremder wird? Zuflucht wegen der inneren Unruhe, die sie nachts nicht mehr schlafen lässt? Antwort auf die Frage, wann die Welt eigentlich so durcheinandergeraten ist? Während Dora noch versucht, die eigenen Gedanken und Dämonen in Schach zu halten, geschehen in ihrer unmittelbaren Nähe Dinge, mit denen sie nicht rechnen konnte. Ihr zeigen sich Menschen, die in kein Raster passen, ihre Vorstellungen und ihr bisheriges Leben aufs Massivste herausfordern und sie etwas erfahren lassen, von dem sie niemals gedacht hätte, dass sie es sucht.

Mein Eindruck

Ja, ich weiß, ich bin ein bisschen “late to the party”, aber “Über Menschen” ist eines dieser Bücher, bei dem mir schon vor dem Erscheinen klar war, dass ich es besitzen muss, es dann aber trotzdem 9 Monate ungelesen im Regal steht, weil ich es mir “aufheben” wollte. Und so las ich es Ende letzten Jahres, als ich mit dem Herbstprogramm gar nicht warm wurde und jeden Roman, den ich anfing, nach 20 Seiten wieder zur Seite legte.

“Über Menschen” hat mich gerettet. Seit Monaten hatte ich endlich mal wieder das Bedürfnis, bis in die Nacht hinein zu lesen. Juli Zeh ist stilistisch schlichtweg brillant: Ich liebe ihre klaren Sätze, ihre feinfühligen Beschreibungen von Mensch und Natur, wie sie nichts beschönigt, nichts wertet, sondern vielmehr die Lupe auf Teile unserer Gesellschaft richtet, die es wert sind, genauer betrachtet zu werden. 

Während es in “Unter Leuten” um ein Dorf ging, in dem Windräder gebaut werden sollen, geht es in “Über Menschen” um ein brandenburgisches Dorf, in das die Berlinerin Dora nach der Trennung von ihrem Freund und während des Corona-Lockdowns zieht. Ihr neuer Nachbar stellt sich ihr als “der Dorf-Nazi” vor, womit er sich eigentlich gleich selbst disqualifiziert. Doch schnell merkt Dora, dass es in Bracken im Allgemeinen und beim Dorf-Nazi im Speziellen nicht nur Schwarz und Weiß gibt. So beginnt sie nicht nur, sich mit dem Dorfleben und den Dorfbewohnern auseinanderzusetzen, sondern auch mit sich selbst. Mit Dora hat Juli Zeh eine Protagonistin geschaffen, mit der sich wohl viele identifizieren können. Oberflächlich betrachtet, hat sie alles, um ein glückliches Leben zu führen: sie ist gesund, hat einen tollen Job in einer Marketingagentur, einen Partner, mit ihm eine gemeinsame Wohnung in Berlin. Trotzdem ist sie unglücklich und nicht nur mit den Herausforderungen, die die Pandemie mit sich bringt, überfordert. Was sie im Leben will, weiß sie nicht genau, dafür weiß sie genau, was sie nicht will: ihren Freund beispielsweise, der im Lockdown zum Moralapostel mutiert, was zunehmend zu Differenzen zwischen den beiden führt. Und so flüchtet sie aus ihrem bisherigen Leben nach Bracken, wo sie ein altes Haus gekauft hat, um ihr altes Leben zu überdenken und sich trotz einiger Widerstände ein neues Leben aufzubauen.

“Über Menschen” ist ein Roman, der die Leserschaft wohl mehr spaltet als alle bisherigen Bücher der Autorin. Glücklicherweise habe ich von den Diskussionen um den Inhalt des Romans erst nach der Lektüre mitbekommen, so dass mir niemand im Vorfeld das Lesevergnügen vermiesen konnte. Juli Zeh wird vorgeworfen, mit diesem Roman Nazis zu verharmlosen – ein Vorwurf, der nur einmal mehr zeigt, wie problembehaftet unsere Gesellschaft ist. In “Über Menschen” wird zu keinem Zeitpunkt Rechtsradikalität verharmlost, sondern lediglich die Grauschattierungen zwischen Schwarz und Weiß ausgelotet. Wer annimmt, dass Juli Zeh mit diesem Roman dazu aufruft, in jedem Nazi den guten Kern zu suchen, der empfindet wohl auch “Romeo und Julia” als Aufruf, sich aus Liebe das Leben zu nehmen. 

Mein Fazit:

Mit “Über Menschen” zeichnet Juli Zeh mit viel Feingefühl, Lebendigkeit und Aktualität das Porträt eines typischen ostdeutschen Dorfes mit aussterbender Infrastruktur, Bewohnern in prekären Verhältnissen und Rechtsradikalität. Dass Juli Zeh eine fantastische Autorin ist,  war schon vor diesem Roman klar. Mit der Veröffentlichung dieses Buches hat sie allerdings auch viel Mut bewiesen, da sie eine Problematik in den Mittelpunkt rückt, mit der man sich eigentlich nicht auseinandersetzen will. Sie regt zum Nachdenken an über das Schubladendenken, über Gut und Böse und plädiert letztlich für mehr Menschlichkeit im Umgang miteinander.

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