|Rezension| Coast Road – Alan Murrin
Keine Scheidung, kein Entkommen? Drei Frauen im Irland der 90er Jahre

“Und wenn ich abends höre, wie du deinen Schlüssel ins Schloss steckst*, sagte sie, “will ich mich am liebsten von der Hafenmole ins Meer stürzen.” (S.230)
Inhalt
An der irischen Küste schwimmt man nicht gegen den Strom
Herbst 1994. Die Bewohner des irischen Küstenstädtchens Ardglas beschäftigt nur ein Thema: Colette Crowley – Dichterin, Bohemienne, die Frau, die ihre Familie verlassen hat, um in Dublin ihr Glück zu finden – ist zurück und wohnt in einem kleinen Cottage an der Coast Road. Jeder ihrer Schritte wird von der Gemeinde argwöhnisch beäugt. Hat sie es verdient, dass ihr Mann ihr den Zugang zu den Kindern verwehrt? In ihrer Verzweiflung bittet Colette eine Bekannte um Hilfe, Izzy Keaveney, Hausfrau und Mutter, unglücklich verheiratet mit einem Lokalpolitiker, der sich ausgerechnet für die Legalisierung der Scheidung im Land einsetzt. Und so entsteht zwischen den beiden sehr unterschiedlichen Frauen eine Bindung, die ihre Leben in ungeahnte Bahnen lenkt.
In schnörkelloser Prosa, mit psychologischem Feingefühl und großartiger Beobachtungsgabe erzählt Alan Murrin von den gesellschaftlichen Einschränkungen, die Frauenleben in Irland vor gerade einmal dreißig Jahren bestimmten – kurz bevor Scheidung in einem Referendum mit knapper Mehrheit legalisiert wurde – und beleuchtet dabei subtil, was Frauen überall auf der Welt auch heute noch davon abhält, ihre Partner zu verlassen.
Mein Eindruck
Ich gebe zu: Der Einstieg in Coast Road fiel mir schwer. Es tauchen viele Figuren auf, die ich zunächst nicht auseinanderhalten konnte, und es prasselten zahlreiche Details auf mich ein – ohne dass sich mir ein klarer roter Faden erschloss. Doch nach etwa einem Viertel war ich mittendrin in der Geschichte und konnte das Buch kaum noch aus der Hand legen.
Im Zentrum des Romans stehen drei Frauen aus einem kleinen irischen Küstenstädtchen: Colette, Izzy und Dolores. Sie könnten unterschiedlicher kaum sein – und doch eint sie eines: tiefe Unzufriedenheit mit ihrem Leben.
Colette hat einst ihren Mann und ihre Kinder für eine Affäre verlassen, ist nach Dublin gezogen – und nun wieder zurück in die Enge der Kleinstadt gekehrt. Ihr Mann verbietet ihr jeglichen Kontakt zu den gemeinsamen Söhnen. Dolores weiß, dass ihr Mann sie betrügt, und ist dennoch wieder schwanger von ihm. Izzy, Ehefrau eines aufstrebenden Politikers, findet im Gespräch mit dem Pfarrer mehr Nähe und Vertrautheit als mit ihrem eigenen Mann, der sich ganz seiner Karriere verschrieben hat.
Wie Alan Murrin die Leser:innen in diesen Kosmos aus irisch-katholischer Enge, Spießertum und Doppelmoral eintauchen lässt, ist beeindruckend – und erschreckend.
Bis ich es in diesem Roman las, war mir nicht bewusst, dass Scheidung in Irland bis in die 1990er Jahre illegal war. In den 90er Jahren! Ich konnte es kaum glauben. Welche Möglichkeiten hatten diese unglücklichen Frauen also, wenn sie sich nicht offiziell von ihren Männern trennen konnten? Colette hat es gewagt, ihren Mann zu verlassen – und zahlt einen hohen Preis: Die Beziehung zum neuen Partner scheitert, den Kontakt zu ihren Kindern darf sie nicht mehr aufnehmen. Für die katholisch geprägte Gemeinschaft ist sie damit zur Persona non grata geworden. Finanzielle Unterstützung vom Staat oder von ihrem Exmann? Fehlanzeige.
Was alle drei Frauen erleben, ist gesellschaftliche Kontrolle und Verurteilung. Nicht nur durch ihre Ehemänner, sondern durch das gesamte soziale Umfeld. Niemand steht auf ihrer Seite. Und keine von ihnen hat wirklich etwas, um sich zu wehren – außer vielleicht: die anderen beiden.
Die Männer in Coast Road – mit Ausnahme des einfühlsamen Pfarrers – kommen überwiegend schlecht weg. Deshalb war ich während der Lektüre überzeugt, dass eine Frau diesen Roman geschrieben haben müsse. Umso erstaunter war ich, als ich nach dem Lesen feststellte, dass der Autor ein Mann ist. Alan Murrin gelingt es bemerkenswert feinfühlig, sich in die Perspektiven dieser drei Frauen hineinzuversetzen und ihre Geschichten mit einer solchen Tiefe und Authentizität zu erzählen, dass man als Leser:in durchweg mitfühlt.
Coast Road blickt hinter die Fassade einer idyllischen Kleinstadt, die sich bei näherem Hinsehen als beklemmend und repressiv entpuppt. Die Geschichte entfaltet dabei eine fast düstere Sogwirkung – man liest mit wachsendem Unbehagen weiter, spürt, wie sich alles zuspitzt, und hofft gleichzeitig auf ein wenig Licht in diesem dichten Nebel aus Schweigen, Scham und Konventionen.
Während mich der Einstieg nicht ganz überzeugt hat, war das Ende fulminant: Der Roman mündet in einen überraschenden Showdown, der die Geschichte zu einem Abschluss bringt, der im Kopf bleibt.
Mein Fazit:
Coast Road ist ein starkes literarisches Debüt, in dem Alan Murrin mit beeindruckender Sensibilität und Klarheit die Widersprüche einer Gesellschaft offenlegt, in der traditionelle Rollenerwartungen und moralische Dogmen das Leben von Frauen prägen. Unaufgeregt, aber mit umso größerer Wucht schildert er die Hoffnungslosigkeit, mit der unglücklich verheiratete Frauen im katholischen Irland der 1990er Jahre konfrontiert waren – und was passieren kann, wenn man einen Weg aus der Hoffnungslosigkeit heraus sucht. Zugleich ist Coast Road eine leise, aber kraftvolle Hommage an die Solidarität unter Frauen.