|Rezension| Der Schlaf der Anderen – Tamar Noort

von | Juli 4, 2025 | 0 Kommentare

Gegen die Müdigkeit des Lebens: Ein Roman über Schlaflosigkeit und Solidarität

Verlag: Rowohlt
Gebundene Ausgabe: 24,00 Euro
Ebook: 19,99 Euro
Erscheinungsdatum: 17.06.2025
Seiten: 320

„Dem Schlaf gehört alles. mein Tag und meine Nacht. Meine Arbeit, meine Freizeit. Der Kontakt zu meinen Kindern, meinem Mann, meiner Mutter, dem Kollegium. Er beherrscht meine Wünsch, meine Träume, meine Liebe. Der Schlaf gebietet über meinen Körper. Ich verabscheue ihn dafür, aber gleichzeitig sehne ich ihn herbei. Denn er erreicht seine Macht über mich mit einem einfachen Schachzug: mit seiner Abwesenheit.“ (S.5)

Inhalt

Als Nachtwache im Schlaflabor bringt Janis Fremde ins Bett und schaut ihnen beim Schlafen zu. Der Tag-Nacht-Rhythmus, der anderen Menschen eine natürliche Struktur gibt, gilt für sie nicht. Janis arbeitet, wenn andere ruhen, sie lebt allein und hat sich mit sich selbst gut eingerichtet. Erst als Sina bei ihr auftaucht, erwacht in Janis wieder der Wunsch nach einem anderen Leben. Sina ist Lehrerin und hat einen geregelten Alltag. Doch allmählich entgleitet ihr die Kontrolle: über ihre Familie, ihre Arbeit, ihr ganzes Leben. Als sie Janis kennenlernt, lässt sie einmal die Krisen los, die zu Hause auf sie warten. Woher kommt die starke Verbindung, die beide Frauen spüren? Langsam befreien sich Janis und Sina von dem Takt, den der Alltag ihnen vorgibt. Sie begeben sich auf eine Reise durch die Nacht, in der auf einmal alles auf dem Spiel steht – und nichts mehr bleibt, wie es war.

Mein Eindruck

Ein Roman über das Nicht-Schlafen-Können? Ganz klar: meiner. Dass ich Tamar Noorts zweiten Roman “Der Schlaf der Anderen” lesen musste, war daher keine Frage – sondern ein Reflex.

Wie Noort das Phänomen der Schlaflosigkeit schildert, ist eindrucksvoll und selten. Noch nie habe ich einen Roman gelesen, in dem Schlaflosigkeit nicht bloß erwähnt, sondern als zentrales Thema ernst genommen und zugleich so glaubhaft erzählt wird. Ich lehne mich gern weit aus dem Fenster und behaupte: So kann nur jemand schreiben, der selbst wach lag – wenigstens hin und wieder.

Im Zentrum stehen zwei Frauen, die sich im Schlaflabor begegnen: Sina, die nicht schlafen kann, und Janis, die nicht schlafen darf. Sina lebt ein scheinbar typisches Leben als Mutter, Lehrerin und Ehefrau im Reihenhaus – mit allem, was dazugehört: Care-Arbeit, Mental Load und innerer Zerrissenheit. Janis dagegen ist Single, kinderlos, ausgebildete Krankenschwester und arbeitet als Nachtwache – überqualifiziert, unterfordert, innerlich ausgeklinkt. Was die beiden verbindet, ist das Gefühl der Isolation und die leise, bohrende Entfremdung vom eigenen Leben.

Tamar Noort verbindet die Schlaflosigkeit ihrer Figuren ganz natürlich mit größeren Themen wie klassische Rollenbilder, Mental Load, Schichtarbeit und die damit verbundene Zerstörung der inneren Uhr, die Unsichtbarkeit von Care Arbeit –   – all das fließt unaufdringlich, aber präzise in die Geschichte ein. Man liest und reflektiert.  Man liest – und spürt sich selbst.

Der Perspektivwechsel zwischen Sina und Janis funktioniert ausgezeichnet. Er sorgt nicht nur für Spannung, sondern auch für emotionale Nähe. Besonders Sina war mir auffallend vertraut – was wohl die vielen markierten Stellen in meinem Buch erklärt. Manche Szenen sind so treffsicher und alltagsnah, dass ich laut lachen musste, etwa bei: „Ich durchkämme das Grün auf meinem Teller und sortiere die Nüsse aus. Walnüsse haben im Abendessen nichts verloren. Sie sehen aus wie Gehirne von Eichhörnchen, und genauso schmecken sie auch.“ (S. 30) Andere Sätze hallten länger nach – wie dieser hier, ganz am Anfang: „Wenn Schlaf der kleine Bruder des Todes ist, gehört er zu der Sorte Geschwister, die man am besten in den Schrank sperrt und erst wieder befreit, wenn sie Demut gelernt haben.“ (S. 5)

Mein Fazit:

“Der Schlaf der Anderen” ist ein leiser, kluger und sehr menschlicher Roman über zwei Frauen, die sich im Dunkeln begegnen und miteinander wieder Tageslicht sehen. Tamar Noort verzichtet dabei auf große Dramen und Pathos, überzeugt vielmehr mit Wärme, Ehrlichkeit und einem Ton, der nachklingt. Dieses Buch ist tröstlicht und sagt in aller Stille, sagt: Du bist nicht allein.
P.S.: Tamar Noort – schreib mir, wenn du eine Selbsthilfegruppe für Frauen, die nicht schlafen können, gründest!

 
Vielen Dank an Netgalley und den Rowohlt Verlag für dieses Rezensionsexemplar.
 
 
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