|Rezension| Die Ungelebten – Caroline Rosales
Ein schmerzhaftes Dilemma: Wie viel Wahrheit verträgt die Loyalität?
„Hältst du es für normal, dass unsere Eltern sich immer noch anschweigen? Dass ihr Schweigen für uns rohe Gewalt ist? Was denkst du, wo diese ganze Energie des Schweigens hingeht, die ganzen ungesagten Dinge? Meinst du nicht, dass sie da irgendwo sind, irgendwo gespeichert? In unseren Knochen, in unseren Eltern?“ (S.195)
Inhalt
Die dreifache Mutter Jennifer Boyard hat die Leitung des Familienunternehmens übernommen. Ihr Vater Bernd war über Jahrzehnte einer der großen Produzenten in der Schlagerbranche und ist nach wie vor sehr präsent. Da droht eine Sängerin mit einer Klage wegen Vergewaltigung. Bernd reagiert routiniert auf die Vorwürfe, doch Jennifer beginnt zu begreifen, dass ihre Geschichte als Bernds Tochter unwiderruflich mit dem Schicksal der Betroffenen Lorelei verknüpft ist.
Mein Eindruck
Eigentlich müsste ich heute ein anderes Buch rezensieren, wenn ich mich strikt an die Reihenfolge halten würde, in der ich meine Bücher lese. Doch an einem Tag, an dem ein Bilderbuch-Patriarch die US-Wahl gewonnen hat, fühle ich mich geradezu verpflichtet, Caroline Rosales’ neuesten Roman “Die Ungelebten” in den Mittelpunkt zu stellen.
Ich steckte in einer Leseflaute, als eine Freundin mir dieses Buch ans Herz legte. Also schob ich meinen Stapel ungelesener Bücher zur Seite und griff zu “Die Ungelebten”. Und was soll ich sagen? Dieser Roman war perfekt, um aus meiner Lesemüdigkeit zu finden. Schon das Setting fesselt: Jennifer, Anfang 40, Mutter dreier Kinder und Tochter eines berühmten Schlagerproduzenten, ist in Wohlstand, aber ohne Mutter und nur bei ihrem Vater aufgewachsen. Als der Vater beschuldigt wird, eine Schlagersängerin unter Vertrag vergewaltigt zu haben, sieht sich Jennifer – mittlerweile Geschäftsführerin der Firma – gezwungen, eine schwierige Entscheidung zu treffen: Soll sie Solidarität mit der Betroffenen zeigen oder sich loyal zu ihrem Vater stellen?
Schon mit “Sexuell verfügbar” hat Caroline Rosales bewiesen, dass sie dorthin geht, wo es wehtut – trotz der oft humoristischen Töne in diesem Buch. In “Die Ungelebten” setzt sie bei den „schmerzhaften Wahrheiten“ noch eins drauf. Anhand eines exemplarischen „MeToo“-Falls in der Schlagerbranche zeigt sie, wie Frauen den Zwängen unserer Gesellschaft unterliegen, wie tief patriarchale Strukturen verankert sind und wie entscheidend unser Aufwachsen unser Leben prägt.
Besonders packend fand ich die Darstellung der vielschichtigen und konfliktreichen Vater-Tochter-Beziehung. Die Autorin fängt Jennifers innere Zerrissenheit eindrucksvoll ein: Einerseits empfindet sie Dankbarkeit und Loyalität gegenüber ihrem Vater, der sie alleine großgezogen und ihr das Leben im Wohlstand ermöglicht hat. Sie fühlt sich verpflichtet, ihn zu schützen, und sieht in ihm den Mann, der – so schwierig er auch war – ihre wichtigste Bezugsperson war. Gleichzeitig wächst in ihr eine kaum unterdrückbare Abscheu gegenüber seiner Haltung und seinen Taten. Sie erkennt zunehmend die manipulativen, sexistischen Seiten ihres Vaters, seine Kälte und seine Machtgier, die er als erfolgreicher Produzent über Jahre gepflegt hat.
Als ich das Buch beendet hatte, schrieb ich meiner Freundin und fragte entgeistert: „Was bitte ist das für ein Ende?!“ Diese Frustration ist für mich ein Zeichen von Qualität. Ich liebe Bücher, deren Ende zum Nachdenken und Diskutieren einlädt – die einem nicht mehr aus dem Kopf gehen. Mehrmals dachte ich beim Lesen an Mareike Fallwickls “Die Wut, die bleibt”. Beide Romane erzählen von Frauen, die patriarchalen Strukturen ausgesetzt sind, aber unterschiedlich damit umgehen. Keines der beiden Bücher ist erbaulich, doch beide zeichnen (leider) ein realistisches Bild vom Frausein im 21. Jahrhundert.
Mein Fazit:
“Die Ungelebten” von Caroline Rosales ist ein klug erzählter Roman, der die Leser mitten in die emotionalen und moralischen Konflikte einer Frau wirft, die zwischen Loyalität und Selbstbestimmung navigieren muss. Rosales gelingt es, die Widersprüche und Herausforderungen des Frauseins in einer patriarchal geprägten Gesellschaft eindringlich und ohne Beschönigung darzustellen. Das Buch legt Mechanismen offen, die Frauen prägen, und fordert auf, zu hinterfragen, an welchen Bindungen und Werten wir festhalten und von welchen wir uns befreien könnten. Ein intensives Leseerlebnis, das lange nachhallt und zum Weiterdenken anregt! Unbedingt lesen!