|Rezension| Nussschale – Ian McEwan
Originell, intelligent, unterhaltsam: McEwan

Seiten: 288
„Ich hätte auch in Nordkorea zur Welt kommen können, wo die Thronfolge zwar ebenso unangefochten ist, Freiheit und Essen aber zu wünschen übriglassen.“
Worum geht´s?
Eine klassische Konstellation: der Vater, die Mutter und der Liebhaber. Und das Kind, vor dessen Augen sich das Drama entfaltet. Aber so, wie Ian McEwan sie erzählt, hat man diese elementare Geschichte noch nie gehört. Verblüffend, verstörend, fesselnd, philosophisch – eine literarische Tour de force von einem der größten Erzähler englischer Sprache.
Cover und Titel
Mein Eindruck
Ein Roman über eine Affäre, der aus der Sicht eines Ungeborenen, dessen Mutter den weiblichen Part der Affäre einnimmt, erzählt wird: „So etwas kann sich wirklich nur Ian McEwan ausdenken“ war mein 1. Gedanke, aber nein, damit lag ich falsch. Denn McEwan hat sich passend zum aktuellen Shakespeare-Jahr am weltberühmten Theaterstück „Hamlet“ orientiert und liefert mit „Nussschale“ eine perfekte Adaption desselbigen, die sich sowohl im Plot als auch in der Namensgestaltung der Protagonisten zeigt: Trudy (Gertrude) und Claude (Claudius).
Der Einstieg in die Geschichte fiel mir zugegebenermaßen nicht leicht. Es dauerte ein wenig bis ich mich auf diese außergewöhnliche Erzählperspektive bzw. den sehr außergewöhnlichen Erzähler einlassen konnte. Hier hat man es nämlich nicht nur mit einem 9 Monate altem Baby im Bauch seiner Mutter zu tun, was an sich ja schon gewöhnungsbedürftig ist, sondern mit einem 9 Monate, allwissendem Baby, das sich nicht nur mit der aktuellen weltpolitischen Lage bestens auskennt, sondern auch mit Weltliteratur oder den Weinsorten, die seine Mutter konsumiert. Auf diese Realitätsferne musste ich mich erstmal einlassen, was mir durch den spannenden Plot, der schon Krimicharakter hat, auch nicht besonders schwer fiel.
Es ist schwierig auf die Handlung des Romans einzugehen ohne mehr zu verraten als im Klappentext steht. Deshalb sei nur so viel verraten: Das Thema (eine verheiratete Frau hat eine Affäre) nun wahrlich nicht neu ist, erzählt McEwan auf eine originelle Weise, die einerseits haaresträubend, andererseits sehr unterhaltsam ist. Das Besondere ist hier der Blickwinkel, denn das ungeborene Kind der Frau erzählt dem Leser von der Affäre. Dabei analysiert er die ihm zumindest optisch unbekannten drei Protagonisten (Vater, Mutter, Liebhaber) anhand ihrer Verhaltensmuster und Dialoge derart scharfsinnig, dass der Leser trotz des nicht neuen Themas bestens unterhalten wird. Aufgrund der Geschehnisse in der Familie, in die er bald hineingeboren werden soll, ist er in großer Sorge und verzweifelt über die Tatsache, dass er nicht aktiv ins Geschehen eingreifen kann. Auch über die aktuellen weltpolitischen Entwicklungen macht er sich seine (klugen) Gedanken, die für meinen Geschmack manchmal zu ausufernd und zu fernab vom eigentlichen Plot waren. Nichtsdestotrotz beweist Ian McEwan damit einmal mehr sein Talent intelligent und unterhaltsam zugleich zu schreiben.
Mein Fazit:
„Nussschale“ ist ein stilistisch brillianter Roman, der durch seine originelle Erzählperspektive überzeugt und den Leser einerseits mit intelligentem, hintergründigem Humor und andererseits durch einen kritischen Blick auf weltpolitische Gegebenheiten überzeugt. Nur Ian McEwan gelingt es so viel Weisheit in gerade einmal 288 Seiten zu verpacken. Für Fans des Autors ist dieser Roman ein Muss. Und für Fans der anspruchsvollen Unterhaltung ebenso.