|Rezension| Sommerwasser – Sarah Moss
Sarah Moss ist eine brillante Erzählerin!
„Claires Ansicht nach kommen die Menschen am besten miteinander aus, wenn sie mindestens die Hälfte der Zeit getrennt verbringen, und sie ist sich nicht sicher, ob das nicht auch für Kinder gilt.“ (S.96)
Inhalt
Der Regen trommelt auf den schottischen See, schluckt das Licht des langen Sommertages und lässt die Pfützen brodeln. Hinter den Fenstern der wenigen Ferienhütten bleibt kaum etwas zu tun, als die Nachbarn zu beobachten. Während die Stunden fast unmerklich vergehen, formen die Urlaubsgäste aus flüchtigen Eindrücken ihr Urteil. Über die Mutter, die bei Tagesanbruch in ein paar kostbare Stunden Einsamkeit flüchtet. Den Jungen, der den windgepeitschten See seinen nervtötenden Eltern vorzieht. Und vor allem über diese eine Familie mit dem komischen Nachnamen, die hier einfach nicht hergehört. Mit Witz und Einfühlungsvermögen erzählt Sarah Moss von der menschlichen Fähigkeit zu Grausamkeit und Güte.
Mein Eindruck
Sarah Moss ist im deutschsprachigen Raum leider nicht so bekannt und gehypt wie sie es sein sollte. Ich bin auch nur durch die Übersetzerin ihrer Romane, Nicole Seifert, auf ihre Bücher aufmerksam geworden. Sie hat sehr von Sarah Moss’ Büchern geschwärmt, so dass ich vor einigen Jahren “Gezeitenwechsel” und “Zwischen den Meeren” von ihr las. Während ersteres mich sehr begeisterte, war “Zwischen den Meeren” nicht mein Fall. “Summer Water” bzw. “Sommerwasser” schien aber nun wieder so gut in mein Beuteschema zu passen, dass ich es unbedingt lesen wollte. Auch wenn es sich bei diesem Roman offensichtlich um ein Sommerbuch handelt, kann man es durchaus – wie ich – auch im Winter lesen, das es alles andere als ein klassischer, leichter Sommerroman ist und sich das Wetter gerade nicht wirklich von dem in “Sommerwasser” unterscheidet.
Die Autorin beschreibt einen Tag mit Dauerregen in einem schottischen Ferienpark am See – irgendwo im Nirgendwo. Es gibt kein Internet, kein Handyempfang, nur lauter alte Holzhütten am See, in dem verschiedene Familien ihren Sommerurlaub verbringen. Diese Familien bzw. ihre Gedanken und Beobachtungen sind der Mittelpunkt dieses leisen Romans. Er ist nicht handlungsgetrieben, sondern lebt von den präzisen Beobachtungen der Figuren, die ein Spiegelbild unserer (kaputten) Gesellschaft sind.
In zwölf Kapiteln lernt man jeweils zwei Figuren aus sechs Ferienhütten kennen und bekommt so nicht nur einen Einblick in ihre Gedanken und Beobachtungen über die anderen Urlauber:innen, sondern auch in ihr Beziehung zueinander. Der Leser bekommt so lauter Puzzleteile, die er selbst zusammenfügen muss, um ein Gesamtbild zu bekommen. Kaleidoskopartig ist das Bild, das man als Leser von diesen Menschen bekommt: Je nachdem wie man die Perspektive wechselt, ändert sich das Gesamtbild. Das Spannende hier ist: Die unterschiedlichen Familien interagieren kaum miteinander. Die meisten Figuren sind dank des Dauerregens in ihren Hütten, die Stimmung ist gereizt und man schaut aus dem Fenster. Alles was man außer grauen Wolken und dicken Regentropfen sieht, sind die Häuser der anderen. Da ist das ältere Paar, bei dem die Frau Anzeichen von Demenz bei sich bemerkt. Da sind die Teenager, für die der Urlaub in der Einöde ohne Kontakt zur Außenwelt die Hölle ist. Da ist die Familie mit zwei kleinen Kindern und einer depressiven Mutter, da ist das junge Paar, bei dem sich (noch) alles um möglichst guten Sex dreht und da ist das Ferienhaus, in dem eine osteuropäischen Frau mit kleinem Kind wohnt und in dem jede Nacht eine Party mit lauter Musik veranstaltet wird, von der alle anderen Urlauber:innen sich gestört fühlen. Interessanterweise ist diese Ferienhütte die einzige, die in den zwölf Kapiteln nicht zu Wort kommt, wodurch die Wirkung der Fronten – alle anderen gegen die Fremden – noch verstärkt wird.
Fasziniert hat mich, mit wie viel Feingefühl sich Sarah Moss jeder ihrer Figuren widmet: Ob es der pensionierte Arzt ist, der sich Sorgen um seine Frau macht, die gestresste Mutter, die von Mann und Kindern genervt ist oder das kleine Mädchen, das Angst im Dunkeln hat: Ich habe mit jeder Figur mitgefühlt und konnte mich in sie, ihre Ängste und Sorgen hineinversetzen. Das ist übrigens auch mit Sicherheit der Übersetzung von Nicole Seifert zu verdanken, die so gut ist, dass man vergisst, eine Übersetzung zu lesen.
Mein Fazit:
Sarah Moss ist eine brillante Beobachterin, die in “Sommerwasser” mit einer beeindruckenden Leichtigkeit zwischenmenschliche Konflikte, menschliche Schwächen und Befindlichkeiten aufzeigt und so ein Spiegelbild der Gesellschaft an einem schottischen See im Nirgendwo kreiert. Mit britischen Humor und einem zunächst erst unterschwelligen und zum Ende hin dann offensichtlichen Nervenkitzel, liefert die Autorin mit diesem Roman eine kurzweilige, unterhaltsame und intelligent erzählte Gesellschaftsstudie ab.