|Rezension| Gezeitenwechsel – Sarah Moss

von | Apr 4, 2019 | 0 Kommentare

Ein sensibler und intensiver Blick in das Innere einer Familie

Verlag: Mare 
Übersetzung: Nicole Seifert
Originaltitel: The tidal zone
Gebundene Ausgabe: 24,00 Euro
Ebook: 18,99 Euro
Erscheinungsdatum: 12.02.2019
Seiten: 368

„Wenn man wüsste, was passiert, wenn man wüsste, wann der Partner stirbt, die Kinder und man selbst, wenn man ihre Lieben und Verluste, ihre Triumphe und Niederlagen, Krankheiten und letzten Momente schon kennen könnte – würde man es wollen? Nein. Man meint, eine Geschichte zu wollen, ein Ende, aber man will es nicht. Man will das Leben. Man will Unordnung und Unkenntnis und Ungewissheit.“ (S.283)

Inhalt

Adam Goldschmidt lebt als hauptberuflicher Vater, nebenberuflicher Dozent und Ehemann einer überarbeiteten Ärztin in einem Vorort von Coventry. Seine Tage drehen sich um schmutzige Wäsche, vitaminreiche Ernährung und pädagogisch wertvolle Kindergeburtstage. Doch dann kommt der Morgen, an dem er einen Anruf aus der Schule seiner Töchter erhält. Er beginnt mit den Worten, von denen ein jeder hofft, sie niemals hören zu müssen: Es ist etwas passiert.
Sensibel, humorvoll und mit einer Intensität, die unter die Haut geht, erzählt Sarah Moss von den Absurditäten eines Familienalltags in Großbritannien, von der Liebe zwischen Eltern und ihren Kindern, vor allem aber von den Momenten, die uns die Zerbrechlichkeit des Lebens vor Augen führen.

Mein Eindruck

Auf “Gezeitenwechsel” bin ich durch die Übersetzerin des Werkes, Nicole Seifert, die zugleich auf Nacht und Tag über Literatur bloggt, aufmerksam geworden. Sie hat sehr von diesem Roman geschwärmt, den ich wohl ansonsten nicht weiter beachtet hätte zwischen all den Neuerscheinungen in diesem Frühjahr. Da Nicole und ich oft die gleichen Bücher mögen, musste ich mir diesen Roman also mal genauer ansehen. 

Anders als in vielen Familienromanen, die ich bisher gelesen habe, schreibt hier eine Frau aus der Sicht eines Mannes, nämlich des Familienvaters Adam. Zuletzt ist mir das bei Juli Zehs “Neujahr” aufgefallen – ein Roman, den ich im Übrigen sehr gelungen fand. Kann Sarah Moss da mithalten? Yes, she can! In einem angenehm unaufgeregten Ton mit dezentem britischen Humor wird aus Adams Perspektive erzählt eine Geschichte erzählt, die mich auf vielen Ebenen sehr berührt hat. Sie beginnt mit dem Satz, den kein Elternteil jemals hören will, wenn es um das eigene Kind geht: “Es ist etwas passiert.” und plötzlich ist man mittendrin im Familienleben der Goldschmidts, in dem es ab diesem Zeitpunkt ein „Davor“ und „Danach“ gibt, worauf vermutlich auch der schöne Titel „Gezeitenwechsel“ anspielt. 

Wie reagiert eine Familie, wenn plötzlich etwas Einschneidendes passiert, das einem die Fragilität des Lebens vor Augen führt? Sarah Moss beleuchtet diese Thematik mit einer beeindruckenden Sensibilität einerseits und angenehmen Leichtigkeit andererseits. Ihre Figuren – vor allem natürlich die, aus deren Perspektive erzählt wird – gehen dem Leser nahe, sind authentisch und ausdifferenziert. Immer wieder wechseln sich schmerzhafte Wahrheiten und feiner britischer Humor ab – übrigens soweit ich das beurteilen kann auch herausragend übersetzt. Trotz des ernsthaften Themas ist „Gezeitenwechsel“ kein Roman, der einen bedrückt, sondern eher einer, der einen erhellt. Es geht um Familie, was sie zusammenhält, was sie erschüttert, wie die eigenen Wurzeln einen in vielerlei Hinsicht prägen und wie man mit einer unsicheren Zukunft umgeht. Der Leser wird hier nicht geschont. Es werden viele unangenehme Wahrheiten angesprochen, vor allem hinsichtlich Geschlechterklischees und der kleinen Scharmützel in einer Ehe. Sarah Moss hält dem Leser hier geschickt den Spiegel vor. 

Interessant – aber nicht vollends überzeugend – fand ich den zweiten Erzählstrang, in dem es um ein Projekt geht, mit dem sich der Protagonist Adam beschäftigt: die Zerstörung und den Neubau der Kathedrale von Coventry. Erst dachte ich „Wen interessiert das jetzt?“, aber es dauerte nicht lange und ich fand Gefallen an dieser zweiten Story, die mit der Haupthandlung kaum Berührungspunkte hat. Ich hätte mir am Ende jedoch noch irgendeinen Bogen zur Haupthandlung gewünscht, denn so bleibt der Leser bis zuletzt im Ungewissen, warum die Autorin für die Geschichte unbedingt diesen zweiten Erzählstrang brauchte. 

 

 

 

 

Mein Fazit:

Ich bin sehr dankbar, dass ich durch die Übersetzerin von „Gezeitenwechsel“ auf diesen Roman aufmerksam wurde, denn sonst wäre mir eine sensibel und klug erzählte, mit britischem Humor gewürzte, zu Herzen gehende Geschichte entgangen, in der Sarah Moss uns sehr zeitgemäß zeigt, wie eine Familie durch einen Gezeitenwechsel zwar heftig durcheinander gerät, aber nicht untergeht. Danke, Nicole! 

 
Vielen Dank an den Mare Verlag für dieses Rezensionsexemplar.
 
 
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