|Rezension| Hard Land – Benedict Wells

von | Apr 2, 2021 | 0 Kommentare

Coming-of-age mit Nostalgie-Charme

Verlag: Diogenes
Gebundene Ausgabe: 24,00 Euro
Erscheinungsdatum: 24.02.2021
Seiten: 352

„(…) Trauer ist kein Sprint, Trauer ist ein Marathon. Und auf dieser Strecke gab es Stellen, an denen es besser lief, und andere, an denen ich kaum Luft bekam.“ (S.274)

Inhalt

Missouri, 1985: Um vor den Problemen zu Hause zu fliehen, nimmt der fünfzehnjährige Sam einen Ferienjob in einem alten Kino an. Und einen magischen Sommer lang ist alles auf den Kopf gestellt. Er findet Freunde, verliebt sich und entdeckt die Geheimnisse seiner Heimatstadt. Zum ersten Mal ist er kein unscheinbarer Außenseiter mehr. Bis etwas passiert, das ihn zwingt, erwachsen zu werden. Eine Hommage an 80’s Coming-of-Age-Filme wie ›The Breakfast Club‹ und ›Stand By Me‹ – die Geschichte eines Sommers, den man nie mehr vergisst.

Mein Eindruck

Wenn dich ein Roman wie “Vom Ende der Einsamkeit” nachhaltig bewegt, der Autor dann einen Erzählband herausbringt, der dir nicht wirklich gefällt und schließlich einen neuen Roman, der allein vom Klappentext schon wie ein Volltreffer klingt, dann bist du gleichermaßen euphorisch wie panisch. Benedict Wells neue Figuren Sam und Kirstie würden es wohl “euphanisch” nennen – analog zu ihrer Wortneuschöpfung “euphancholisch”. Ich konnte es kaum bis zum Erscheinungstermin abwarten und als das Buch dann hier war – sogar vor dem Erscheinungstermin – ließ ich es liegen. Zu groß war die Angst vor einer Enttäuschung und irgendwie wollte ich mir dieses besondere Buch, auf das ich fünf Jahre gewartet habe, auch noch aufsparen, denn es ist abzusehen, dass die nächste Wartezeit wohl nicht kürzer werden wird. Je öfter mir das Buch in den letzten Wochen in den sozialen Medien begegnete, desto mehr überwog letztlich doch die Neugier gegenüber der Angst vor einer Enttäuschung. Also schlug ich das Buch auf und las den ersten Satz “In diesem Sommer verliebte ich mich, und meine Mutter starb.” Bäm! Ich wusste bereits nach dem ersten Satz, dass mich dieser Roman genau wie “Vom Ende der Einsamkeit” nicht mehr los lassen wird. 

Wie viele andere vielleicht auch, hatte ich Zweifel, ob ein 1984er geborener deutsch-schweizerischer Schriftsteller authentisch über einen Teenager im Sommer 1985 in Missouri schreiben kann? Nun, historische Romane werden ja bekanntlich auch mindestens 100 Jahre später geschrieben, was durch eine möglichst gute Recherche durchaus möglich ist. Und so hat Benedict Wells ebenfalls sehr gut recherchiert, um die Lebensumstände eines amerikanischen Teenagers in den 80er Jahren glaubwürdig zu transportieren. Durch die Erwähnung der damals angesagten Musik und Filme hat dieser Roman eine nostalgische Note, in der ich mich sofort heimelig und wohl fühlte, auch wenn ich eigentlich ein Kind der 90er bzw. 2000er Jahre bin.

Spannend ist neben der guten Recherche wie Wells seinen Roman aufbaut: Handlungsort ist die fiktive Kleinstadt Grady, die laut einer Legende 49 Geheimnisse birgt. So enthält dieser Roman 49 Kapitel und damit 49 Geheimnisse. Die gute Recherche der damaligen Umstände sowie ein origineller Aufbau des Romans sind allein sicher noch keine überzeugende Argumente für “Hard Land”. Warum sollte man diesen coming-of-age Roman also lesen? Die schlichte und leicht abgedroschene Antwort: Weil er anders ist als die anderen. Oberflächlich betrachtet scheint das vielleicht gar nicht der Fall zu sein, denn wie in den meisten coming-of-age Romanen ist es auch hier ein jugendlicher Außenseiter mit familiären Problemen, der vom unsicheren Teenager zum jungen Erwachsenen reift. Das Besondere an diesem Roman ist zum einen die feinfühlige Darstellung des Protagonisten und seiner Probleme. Zum anderen ist es die großartige Sprache, die mich aufgrund ihrer Leichtigkeit einerseits und Tiefe andererseits schon bei “Vom Ende der Einsamkeit” fasziniert hat. Auch wenn man – wie ich – mehr als doppelt so alt wie Sam ist und kein Teenager in den 80ern war, schafft Wells es durch starke Bilder und innere Monologe seines Protagonisten, dass man diese Geschichte nicht nur liest, sondern fühlt. Die einschneidendsten Aspekte aus Sams Sommer, die Wells bereits im ersten Satz verrät,  wird dadurch zu einem unvergesslichen und sehr emotionalen Erlebnis, das Erinnerungen weckt an die eigene Jugend: diese von sehr viel Unsicherheit und “ersten Malen” geprägte Zeit, die im besten Fall auch eine große Portion Unbeschwertheit und unvergessliche Erlebnisse mit Freunden mit sich brachte. Durch den 15-jährigen Sam als Ich-Erzähler erlebt der Leser all diese besonderen Momente hautnah mit.

“Kind sein ist wie einen Ball hochwerfen, Erwachsenwerden ist, wenn er wieder herunterfällt.” (S.122)

Überragend finde ich, wie Wells auch dieses Mal wieder das Thema “Tod und Trauer” bearbeitet. Mit viel Fingerspitzengefühl führt er Sam durch dieses Minenfeld der Emotionen. Leser*innen, die ebenfalls Erfahrungen mit einem sehr kranken Familienmitglied bzw. mit dem Verlust eines Familienmitglieds haben, werden sich hier mit Sicherheit in vielen Empfindungen wiederfinden, die Wells sehr detailliert beschreibt und dabei auch nichts beschönigt. Die für mich einprägsamste Szene möchte ich nicht spoilern, aber für diejenigen, die das Buch bereits gelesen habe, habe ich versucht, sie im Foto zu würdigen. Trotz aller Gänsehaut-Momente im Roman ist “Hard Land” kein Buch, das runterzieht. Dafür sorgen vor allem die witzigen Dialoge mit der schlagfertigen Kirstie, die das Objekt von Sams Begierde ist. 

“Sie konnte mir so ähnlich sein, und sie war das Gegenteil von mir, und wenn meine Stimmung eine leere Fabrikhalle war, dann war sie ein Haufen Kerzen.” (S.100)

Überhaupt merkt man an den Nebenfiguren, welch großartiger Autor Wells ist: Hier wird nichts dem Zufall überlassen. Jeder Charakter ist bis aufs Kleinste durchdacht und bringt seine ganz eigenen Eigenschaften und Probleme mit: Sowohl Sams Eltern als auch die Jugendlichen, die im besagten Sommer Sams Freunde werden, bekommen in der Handlung so viel Raum, dass sie neben Sam nicht verblassen und damit das Siegel “Nebencharaktere” eigentlich gar nicht verdienen.

 

Mein Fazit:

Niemand kann seine Jugend wiederholen, aber mit “Hard Land” kann man sich für eine kurze Zeit die Gefühle von damals zurückholen: die Unbeschwertheit, die erste Liebe, die Hoffnung auf eine glückliche Zukunft als erwachsener Mensch. In einer wunderschönen Sprache, die zum Versinken einlädt, erzählt Wells von der Entwicklung eines Teenagers, die durch Unsicherheit, Angst und Sorge um die schwerkranke Mutter geprägt ist. Trotz dieser denkbar schlechten Voraussetzungen ist “Hard Land” keine “Hard Reading”, sondern bietet die Möglichkeit während einer kräftezehrenden Pandemie zumindest zeitweise einen unbeschwerten Sommer mit vielen Lieblingsmomenten zu erleben.

 

 
Vielen Dank an den Diogenes Verlag für dieses Rezensionsexemplar.
 
 
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