|Rezension| Die Wut, die bleibt – Mareike Fallwickl

von | Mrz 24, 2022 | 0 Kommentare

Das wichtigste Buch des Jahres

Verlag: Rowohlt
Gebundene Ausgabe: 22,00 Euro
Ebook: 15,99 Euro
Erscheinungsdatum: 22.03.2022
Seiten: 384

„Der Scheiß an der Sache mit der Belastbarkeit ist, dass Mütter an ihre Grenzen gehen und weit darüber hinaus (…), sie können nicht mehr, aber sie schaffen es dennoch. Wie so ein überladener Transporter, dessen Reifen fast unter dem Gewicht platzen, dessen Auspuff am Boden schleift, der sehr langsam fährt und quietscht dabei, aber hey, er fährt halt noch.“ (S.171)

Inhalt

Mareike Fallwickls neuer Roman über die Last, die auf den ­Frauen ­abgeladen wird, und das Aufbegehren: ­radikal, wachrüttelnd, empowernd.

Helene, Mutter von drei Kindern, steht beim Abendessen auf, geht zum Balkon und stürzt sich ohne ein Wort in den Tod. Die Familie ist im Schockzustand. Plötzlich fehlt ihnen alles, was sie bisher zusammengehalten hat: Liebe, Fürsorge, Sicherheit. Helenes beste Freundin Sarah, die ­Helene ­ihrer Familie wegen zugleich beneidet und bemitleidet hat, wird in den Strudel der ­Trauer und des Chaos gezogen. Lola, die ­älteste Tochter von Helene, sucht nach einer ­Möglichkeit, mit ihren Emotionen fertigzuwerden, und konzentriert sich auf das Gefühl, das am stärksten ist: Wut.

Drei Frauen: Die eine entzieht sich dem, was das Leben einer Mutter zumutet. Die anderen beiden, die Tochter und die beste Freundin, müssen Wege finden, diese Lücke zu schließen. Ihre Schicksale verweben sich in diesem bewegenden und kämpferischen Roman darüber, was es heißt, in unserer Gesellschaft Frau zu sein.

Mein Eindruck

Welch Ironie, dass ich seit 3 Tagen an dieser Besprechung sitze, weil ich vor lauter Carearbeit (Quarantäne mit zwei Kleinkindern) nicht dazu komme, mal eine halbe Stunde klar zu denken. In verschärfter Form geht es so auch Helene, der Protagonistin in Mareike Fallwickls neuestem Roman “Die Wut, die bleibt”. Nach der Frage “Haben wir kein Salz?” beim Abendessen mit der Familie steht sie auf, geht auf den Balkon, geht einen Schritt zu weit und stirbt. Zurück bleiben drei Kinder, ihr Ehemann und ihre beste Freundin. Dort, wo sonst Geschichten enden, beginnt dieser Roman. Aus der Perspektive der 15-jährigen Tochter Lola und Helenes bester Freundin Sarah wird erzählt, was passiert, wenn eine Mutter das tut, was eine Mutter laut unserer Gesellschaft niemals tun sollte: ihre Familie im Stich lassen. 

Helenes Mann ist nach dem Tod seiner Frau mit zwei Kleinkindern und einem Teenager komplett überfordert, flüchtet sich in die Arbeit und seine Rolle als Geldverdiener. Sarah, die selbst keine Kinder hat, springt dank ihrer Flexibilität als Selbstständige ein und übernimmt Helenes Rolle. Mit dem Blick von außen – einer Protagonistin, die eigentlich keine Mutter ist – zeigt Mareike Fallwickl auf brillante Art und Weise, welche Last auf Müttern liegt. Im zweiten Handlungsstrang gibt die Autorin einen Einblick in das Leben von modernen, informierten und feministischen Teenagerinnen, die anders als die Generation ihrer Mütter die berechtige Frage stellen: Warum schlagen wir nicht zurück? Warum lassen wir uns all das gefallen?

Beim Lesen von Mareike Fallwickls ersten Roman “Dunkelgrün fast schwarz” ist bereits etwas passiert, was mir vorher noch nie passiert ist: ich habe ständig (!) geweint beim Lesen. Beim Lesen von “Die Wut, die bleibt” gab es nun wieder eine Premiere: Meine Smartwatch schlug mehrmals Alarm, dass meine Herzfrequenz zu hoch sei, obwohl ich mich nicht bewege. Wie Lola spürte ich dieses Wutknäuel im Bauch. Die Wut auf eine Mutter, die sich das Leben nimmt. Die Wut auf eine Gesellschaft, in der Carearbeit keine sichtbare Arbeit ist. Die Wut auf das Selbstverständnis von Männern, dass ihre Arbeit mehr Wert ist als die von Frauen. Die Wut auf Frauen, die sich nicht gegenseitig unterstützen, sondern verurteilen. Die Wut darauf, dass Frauen mit einer permanenten Angst leben, wenn sie nachts allein unterwegs sind. Und vor allem die Wut darauf, dass Frauen bitte nicht wütend zu sein haben. Mareike Fallwickl legt den Finger direkt rein in all die Wunden. Dabei belässt sie es aber nicht dabei. Vielmehr drückt sie noch in die Wunden hinein, so sehr, dass ich das Buch oft zur Seite legen musste, um wieder Luft zu bekommen. Das Lesen dieses Buchs einerseits weh, andererseits tut es so verdammt gut, dass jemand all diese Wahrheiten über das Frau- und Muttersein ausspricht.

All das verpackt vermittelt die Autorin in einer lebhaften, klugen, sensiblen und metaphorischen Sprache und gendert nebenbei noch elegant. Wie auch schon bei “Dunkelgrün fast schwarz” und “Das Licht ist hier viel heller” ist “Die Wut, die bleibt” voller Klebezettel, die Sätze markieren, die ich am liebsten für immer konservieren möchte. Sätze, die mit wenigen Worten so viele Wahrheiten ausdrücken. Sätze wie “Es kostet Kraft, ruhig zu bleiben. Sarah fühlt sich wie ein Topf voll sprudelndem Wasser, dessen Deckel schon nach oben gedrückt wird.” (S.103) 

Mein Fazit:

Ich weiß, es ist erst März, aber für mich ist und bleibt “Die Wut, die bleibt” das wichtigste Buch des Jahres. Ich wünsche mir, dass jede Frau dieses Buch liest und dabei fühlt, was ich gefühlt habe: Wut. Aber auch Trost, Verbundenheit und Verständnis. Ich wünsche mir auch und fast noch mehr, dass jeder Mann dieses Buch liest und daraus, wenn schon keine Einsichten, dann zumindest Verständnis resultiert. Verständnis für die Wut, die bleibt.

 
Vielen Dank an den Rowohlt Verlag für dieses Rezensionsexemplar.
 
 
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