|Rezension| Treibgut – Adrienne Brodeur
Über die Schatten der Vergangenheit
„Man kann vergangenen Schmerz nicht überwinden, ohne ihn zu durchleben (…). Das nennt sich sonst Leugnen.“ (S.267)
Inhalt
Sommer auf Cape Cod. Alle Mitglieder der Familie Gardner verheimlichen etwas. Ken, ein erfolgreicher Geschäftsmann mit Vorzeigefamilie und politischen Ambitionen, versucht mit aller Macht, seine Ehekrise zu verbergen. Abby ist Künstlerin und schämt sich dafür, immer noch auf das Wohlwollen ihres Bruders angewiesen zu sein. Adam, der Vater der zwei, sieht unterdessen seinem 70. Geburtstag entgegen. Um ein letztes Mal als Forscher zu glänzen, setzt der brillante Meeresbiologe heimlich seine Medikamente ab – mit fatalen Konsequenzen.
Während Adams Festtag unaufhaltsam näher rückt, verschärfen sich die Konflikte zwischen den Geschwistern. Dann erscheint eine Unbekannte auf der Bildfläche, und bringt alles, woran Abby und Ken geglaubt haben, zum Einsturz.
Mein Eindruck
“Treibgut” kommt durch seinen Titel und das gefällige Cover wie ein seichter Familienroman daher. Aber weit gefehlt” Seicht ist hier ganz und gar nichts. Adrienne Brodeur macht in ihrem Roman ziemlich viele Baustellen auf, von denen ich nur eine nennen möchte, um nicht zu spoilern: Bspw. hat einer ihrer Protagonistin, der 70-jährige Walforscher Adam, Familienoberhaupt und Patriarch, eine bipolare Störung. Allein dieses Thema wird mit der gebührenden Ernsthaftigkeit behandelt, so dass man hier nicht unbedingt von einer locker-leichten Sommerlektüre sprechen kann.
Der Originaltitel des Buches ist übrigens “Little Monsters”. Warum man ihn nicht beibehalten hat, verstehe ich nicht so recht, da “Kleine Monster” sicher eine andere Wirkung auf das potentielle Publikum gehabt hätte als “Treibgut”. Aber um was geht es nun in dieser Geschichte? Es geht um eine Familie und deren unaufgearbeitete Vergangenheit. Die Mutter starb bei der Geburt der jüngsten Tochter Abby, der Vater war plötzlich alleinerziehend mit zwei Kindern. Der ältere Sohn Ken gab heimlich seiner Schwester die Schuld am Verlust seiner Mutter, der Vater war durch seine bipolare Störung zumindest emotional wenig für seine Kinder da. Nun sind Ken und Abby erwachsen und haben eine unterkühlte Beziehung zueinander. Dass Ken mit Abbys bester Freundin verheiratet ist und dieser von ihrer Schwangerschaft erzählt, ihrem Bruder aber nicht, macht die Sache nicht gerade einfacher. Beim 70. Geburtstag des Vaters, bei dem beide Kinder eine große Überraschung für ihren Vater planen, kommt es dann zum großen Showdown.
Typisch für einen Familienroman taucht man als Leser in die Innensicht der Figuren ein. Die Kapitel sind abwechselnd und chronologisch aus der Sicht der Familienmitglieder erzählt. Manches ist vielleicht ein bisschen zu überspitzt gezeichnet: Die Künstlerin, die um jeden Preis unabhängig sein will; die lesbische Polizistin und die pubertierenden Töchter, die sich gegen ihren Vater auflehnen – aber sei es drum: Adrienne Brodeur kann wirklich fesselnd erzählen. Auch die Einbettung des Geschehens in die Zeit des US-Wahlkampfs 2016 hat mir gut gefallen. Die Stimmung zu der Zeit als erstmals die Möglichkeit bestand, dass die USA von einer Frau regiert wird und wie dies allein in der Familie Gardner für unterschiedliche Meinungen sorgt, wird – soweit ich das beurteilen kann – authentisch wiedergegeben.
Geworben wird für “Treibgut” übrigens mit den Worten “Für Fans vom ‘Papierpalast'”. Ich habe den “Papierpalast” gelesen, würde mich aber nicht als Fan bezeichnen. Ich fand das Buch aber auf eine verstörende Art gut. Und da ich ein Faible für diese Bücher habe, die Emotionen wecken, auch wenn es nicht immer gute Emotionen sind, war ich neugierig auf “Treibgut”. 400 Seiten las ich und fragte mich, wo der Verlag die Parallele sieht, außer dass es in beiden Büchern um eine Familiengeschichte geht. Aber am Ende wurde es mir dann klar: Stichwort “verstörend”. Da hat Adrienne Brodeur wirklich überrascht, in dem sie mit einem Hammer um die Ecke kam.
Mein Fazit:
In “Treibgut” steht eines meiner Lieblingsthemen im Mittelpunkt: Wie sehr beeinflusst unsere (nicht aufgearbeitete) Vergangenheit unsere Gegenwart. Adrienne Brodeur widmet sich am Beispiel einer wohlhabenden amerikanischen Familie dieser Frage und zeigt dass Machtkämpfe, Lügen, das Streben nach Anerkennung und Ruhm und vor allem das Nicht-Miteinander-Reden im Kleinen (Familie) wie im Großen (Wahlkampf) kein gutes Ende nehmen.