|Rezension| Das Meer in meinem Zimmer – Jana Scheerer
Ein Roman über Trauer und die Magie der Gezeiten
„Ich knete in meiner Hosentasche einen zerknüllten Zettel. Vielleicht sollte ich ihn rausholen. Vielleicht steht darauf, was ich jetzt tun müsste, in alphabetischer Reihenfolge: – Arme um die Mutter legen, – hin und her wiegen, – leise mit ihr reden, – Sachen sagen wie: Ist halb so schlimm, morgen sieht alles schon wieder ganz anders aus. Nur stimmt das nicht. Es ist genauso, wie es aussieht, und morgen wird Pax genauso tot sein wie heute. Tot. Verstorben, verschieden, von uns gegangen.“ (S.26f.)
Inhalt
Als Jolandas Vater Pax kurz vor ihrem Abitur stirbt, kann ihre Mutter es nicht fassen. Jolanda muss ins Krankenhaus, um nachzufragen, ob er wirklich tot ist. Es stimmt Ex um drei Uhr dreiundzwanzig, wird ihr mitgeteilt. Doch ihre Mutter weigert sich, seinen Tod zu akzeptieren. Verwirrt und wie gelähmt spielen Jolanda und ihre jüngere Schwester Lilli das Spiel mit. Aber die künstliche Normalität ist brüchig. Erinnerungen an das Leben mit Pax holen Jolanda ein: Die Nordseepension, die er betrieb, ohne je einen Gast zu haben. Seine aufbrausende Unberechenbarkeit. Seine leidenschaftliche, wütende, irrsinnige Suche nach einem verschollenen Schiffswrack. Als die kleine Lilli voller Verzweiflung nachts ins Watt läuft, um nach dem Vater zu suchen, führt das Leugnen seines Todes fast in die Katastrophe. Jolanda muss handeln.
Mein Eindruck
Ich habe diesen Roman mit in den Koffer für den Nordsee-Urlaub gepackt, sicher geleitet vom “Meer” im Titel, aber ohne zu ahnen, welch Volltreffer das war. “Das Meer in meinem Zimmer” ist die Geschichte von Jolanda, die mit ihrer Familie auf einer Hallig in einer alten Pension mit Blick auf das Wattenmeer lebt. Als ihr Vater im Krankenhaus stirbt, ist es Jolanda, die ihrer Mutter und ihrer jüngeren Schwester die Nachricht vom Tod des Vaters überbringen muss. Selbst noch unter Schock stehend ist sie mit der Reaktion von Mutter und Schwester, die den Tod leugnen, völlig überfordert.
Mit viel Feingefühl, gemischt mit einem leicht ironischen und abgeklärten Erzählstil erzählt Jana Scheerer die Geschichte einer Familie, in deren Zentrum der Vater Pax steht. Allein die Namensgebung kann man nur ironisch deuten, denn Pax (lat. Frieden) ist derjenige, der durch seine Launen, die Besessenheit vom Meer und einem ominösen, versunkenen Schiff mit Namen “Jolande”, nach dem er auch seine Tochter benannt hat, stets für Unfrieden in der Familie gesorgt hat.
In zwei Erzählsträngen, die sich wahllos abwechseln, bekommt der Leser aus Jolandas Sicht zum einen Einblicke in das vergangene Familienleben mit einem psychisch kranken Vater, zum anderen in die Stunden nach Pax’ Tod. Besonders spannend an der Familienkonstellation ist die Tatsache, dass Jolandas Mutter Psychologin ist und trotz ihrer fachlichen Fähigkeiten immer nur daneben steht und nicht eingreift, wenn Pax seine Töchter oder sie selbst durch sein Verhalten meist psychisch, aber manchmal auch psychisch verletzt. Typisch für ein Kind nimmt Jolanda Pax’ “Eigenheiten” hin, findet Rechtfertigungen dafür und kämpft immer weiter um seine Anerkennung. Die Schwere, die durch diese familiäre Situation auf ihrem so jungen Leben lastet, ist immer latent spürbar. Es hat mich sehr beeindruckt wie die Autorin dieser Schwere Raum gegeben hat, ohne sie direkt zu thematisieren.
Erst nach Pax’ Tod beginnt Jolanda trotz aller Verstörtheit und Überforderung das Verhalten ihres Vaters zu reflektieren. Jolanda ist eine eindrückliche Protagonistin, deren Gefühlswelt so präsent ist, dass man nicht umhin kommt, ihre Emotionen zu teilen. Trotz der ernsthaften Thematik ist “Das Meer in meinem Zimmer” aber dank Jana Scheerers besonderem Erzählstil kein Roman, der deprimiert, sondern einer, der fesselt und nachwirkt.
Mein Fazit:
Wer die Nordsee mit ihren Gezeiten und dem rauen Klima mag, wird auch Jana Scheerers “Das Meer in meinem Zimmer” mögen. Genauso plötzlich wie manchmal die Flut kommt, werden hier Emotionen geweckt, die ebenso wellenartig wie das Meer überschwappen und den Leser ergreifen. Wer lieber an die Ostsee fährt, weil es dort nicht so windig ist, keine Ebbe gibt und überhaupt alles viel schöner ist, wird von diesem Roman vielleicht ebenso verstört sein wie von den Gezeiten an der Nordsee.