|Rezension| Durch die Nacht – Stig Sæterbakken

von | Jan 5, 2020 | 0 Kommentare

Eine erschütternde, intensive und verstörende Sezierung eines Trauerprozesses

Verlag: Dumont
Übersetzung: Karl-Ludwig Wetzig
Originaltitel: Gjennom natten
Gebundene Ausgabe: 22,00 Euro
Ebook: 17,99 Euro
Erscheinungsdatum: 12.07.2019
Seiten: 288

„Ich selbst sagte nicht viel, meist redete sie. Als sei an diesem Abend sie an der Reihe, ein genaueres Bild von sich zu zeichnen. Während wir so durch die Gegend liefen, hatte ich nicht die leiseste Vorstellung von der Zeit, die fallenden Schneeflocken ließen das Ganze wie einen alten, abgenutzten Film wirken, und ich war in Gedanken ganz bei ihr, dadurch, dass ich nicht ein Mal an mich dachte, war ich voll und ganz ich selbst.“ (S.35)

Inhalt

Karl Meyer ist Zahnarzt und führt ein durch und durch bürgerliches Leben. Doch als sein erst achtzehnjähriger Sohn Ole-Jakob Suizid begeht, droht es die Familie zu zerreißen. Karls Frau Eva steht unter Schock, die Tochter Stine verstummt. Auch Karl ist in seiner Trauer gefangen. Er denkt zurück an sein Kind, vor allem aber an das, was die Familie schon vor dessen Tod auf eine Belastungsprobe stellte: Karls Liebschaft mit der deutlich jüngeren Mona. Ist es diese Affäre, die Ole-Jakob in den Tod getrieben hat? Die Schuldfrage steht im Raum – und Karl läuft davon.
Er begibt sich auf eine Reise in die Slowakei. Dort hofft er, Erlösung zu finden: in einem Haus, in dem man, so heißt es, mit seinen tiefsten Ängsten konfrontiert wird – und das man entweder geheilt oder gebrochen verlässt.
›Durch die Nacht‹ ist die Anatomie eines Trauerprozesses und ein Buch, das unter die Haut geht. Stig Sæterbakken schont seine Leser nicht. Dieser so dringlich erzählte Roman schildert die Abgründe, die in uns allen lauern, und wie leicht wir die verletzen, die uns nahestehen.

Mein Eindruck

„Durch die Nacht“ ist kein Roman, den man mal eben nebenher liest. Es ist auch kein Roman für den Strandurlaub oder die tägliche Bahnfahrt. Um sich auf Stig Saeterbakkens Werk einlassen zu können, muss man in der richtigen Stimmung sein. Aus diesem Grund habe ich mich eine ganze Weile vor der Lektüre gedrückt, obwohl sie mir von vielen Seiten empfohlen wurde.

Die Weihnachtszeit, zu der ich traditionell in einer melancholischen Stimmung bin, erschien mir aber passend, um mich mit diesem Roman, der die Trauer eines Vaters nach dem Suizid seines 18-jährigen Sohnes thematisiert, auseinanderzusetzen. Ich las die Überschrift des ersten Kapitels und wusste „Das ist mein Buch!“., denn sie hatte den höchst poetischen Titel „Verdammte Scheiße“.

Der Einstieg in das Geschehen ist unvermittelt: Als Leser wird man mitten hinein katapultiert in eine Familie, die mit dem Suizid des Sohnes bzw. des Bruders klarkommen muss. Schnell wird deutlich, dass die Familie daran zerbrechen könnte, doch bevor es soweit kommt, rollt der Autor die Geschehnisse von vorne auf, springt dabei aber immer wieder zwischen Vergangenheit und Gegenwart hin und her. Er erzählt aus der Perspektive des Familienvaters Karl Meyer vom Kennenlernen seiner späteren Ehefrau Eva, von den Vaterfreuden als sein Sohn Ole-Jakob geboren wurde und später seine Tochter Stine, hin über seinen Ehebruch und die damit verbundenen Konsequenzen.

Im zweiten Teil driftet die Geschichte ins Phantastische mit Horrorelementen ab – zugegebenermaßen hat mich diese Entwicklung gleichermaßen irritiert wie fasziniert. Ich mag eigentliche keine realitätsfernen Erzählformen, aber in „Durch die Nacht“ hat mich der erste Teil so tief beeindruckt, dass ich gar nicht anders konnte als auch beim zweiten Teil dran zu bleiben. Das Ende hat mich noch lange beschäftigt, weil ich bis jetzt nicht einschätzen kann, ob ich irgendeinen Hinweis nicht mitbekommen habe oder ob es tatsächlich ein sehr offenes Ende ist. Fest steht, dass es für mich ein unbefriedigendes Ende war, weil zu viele Fragezeichen in meinem Kopf blieben.

Brillant ist dagegen Stig Saeterbakkens Schreibstil: Mit wenigen Worten erschafft er starke Bilder, fasst Gefühle in Worte, für die es eigentlich keine Worte gibt und erschafft eine beklemmende Atmosphäre, die den Leser nur schwer wieder loslässt. Es geht in „Durch die Nacht“ viel um Schuld, um das „Was wäre wenn“ und darum ob und wie man weiterleben kann, wenn das eigene Kind sich das Leben genommen hat. Es ist ein drastisches Buch und keines, das Trauer mit Samthandschuhen anfasst. Trotzdem und gerade deshalb fühlt man sich als Trauernder verstanden, da die Trauer selbst genauso indifferent ist wie dieses Buch.

Mein Fazit:

Stig Sæterbakkens „Durch die Nacht“, in dem die Trauer eines Vaters um seinen Sohn seziert wird, ist genauso schwierig wie ein realer Trauerprozess: Es erschüttert, verstört, macht wütend, taub, traurig, ratlos und ängstlich. Trauer ist ein Fass ohne Boden. Sie wird im besten Fall immer weiter in den Hintergrund gerückt, aber verschwindet nie ganz. Sie hat ein offenes Ende, genauso wie dieser Roman. Nicht jeder wird diesen sonderbaren, zweigeteilten Roman mögen, aber ich bin sicher, dass jeder, der bereits einen nahestehenden Menschen verloren hat, sich in vielen Worten Sæterbakkens wieder- und Trost finden wird.

 
Vielen Dank an den Dumont Verlag für dieses Rezensionsexemplar.
 
 
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