|Rezension| Windstärke 17 – Caroline Wahl

von | Jun 8, 2024 | 0 Kommentare

Ich habe es ein bisschen zu sehr gefühlt…

Verlag: Dumont
Gebundene Ausgabe: 24,00 Euro
Ebook: 18,99 Euro
Erscheinungsdatum: 15.05.2024
Seiten: 256

„Seitdem kann ich nicht mehr schreiben. Ich kann mir keine Geschichte mehr ausdenken, weil ich immerzu an die Geschichte denke, die mir passiert ist, die in Mamas Tod mündet, an meine Rolle darin. Weil ich immerzu an die Geschichte denke, die leider keine Geschichte ist und die ich nicht aufschreiben kann, weil sie mit ihrem Tod endet.“ (S.78)

Inhalt

Ida hat nichts bei sich außer dem alten, verschrammten Hartschalenkoffer ihrer Mutter, ein paar Lieblingsklamotten und ihrem MacBook, als sie ihr Zuhause verlässt. Es ist wahrscheinlich ein Abschied für immer von der Kleinstadt, in der sie ihr ganzes bisheriges Leben verbracht hat. Im Abschiednehmen ist Ida richtig schlecht; sie hat es vor zwei Monaten nicht einmal auf die Beerdigung ihrer Mutter geschafft. Am Bahnhof sucht sie sich den Zug aus, der am weitesten wegfährt – auf keinen Fall will sie zu ihrer Schwester Tilda nach Hamburg –, und landet auf Rügen. Ohne Plan, nur mit einem großen Klumpen aus Wut, Trauer und Schuld im Bauch, streift sie über die Ostseeinsel. Und trifft schließlich auf Knut, den örtlichen Kneipenbesitzer, und seine Frau Marianne, die Ida kurzerhand bei sich aufnehmen. Zu dritt frühstücken sie jeden Morgen Aufbackbrötchen, den Tag verbringt Ida dann mit Marianne, sie walken gemeinsam durch den Wald oder spielen Skip-Bo, abends arbeitet Ida mit Knut in der »Robbe«. Und sie lernt Leif kennen, der ähnlich versehrt ist wie sie. Auf einmal ist alles ein bisschen leichter, erträglicher in Idas Leben. Bis ihre Welt kurz darauf wieder aus den Angeln gehoben wird.

Mein Eindruck

Vielleicht denkt ihr euch jetzt “Evi ist ein bisschen late to the party”. “Windstärke 17” war Platz 1 der Bestseller-Liste –  übrigens parallel zu Caroline Wahls Debüt “22 Bahnen”, dass die Taschenbuch-Bestseller-Liste anführte. Was für ein schöner und vor allem verdienter Erfolg für die Autorin! Und nein, ich habe mir das Buch nicht gekauft, weil ihr es alle gelobt habt oder es die Bestseller-Liste anführte, sondern weil ich “22 Bahnen” schon sehr geliebt habe. Als ich im Herbst die Fortsetzung dieses Buches in der Dumont-Verlagsvorschau entdeckt habe, war mir klar, dass ich dieses Buch lesen MUSS. Bereits am Erscheinungstermin habe ich es in der Buchhandlung gekauft und auch gleich gelesen. Aber ich brauchte ein wenig Zeit, um alles sacken zu lassen, bevor ich die richtigen Worte für diese Rezension finde.

Der Grund hierfür ist, dass dieses Buch stellenweise ein bisschen zu nah an meiner Realität ist. Angefangen bei dem Setting auf Rügen bei Binz bzw. Prora, wo ich nicht nur letztes Jahr Urlaub machte, sondern auch dieses Jahr wieder sein werde bis hin zu den Herausforderungen, denen sich die Protagonistin Ida stellen muss.

In “Windstärke 17” erzählt Caroline Wahl die Geschichte der Schwestern Tilda und Ida aus “22 Bahnen” weiter, nur sind nun 10 Jahre vergangen und Ida, die im ersten Roman noch ein Kind war, ist nun erwachsen. Nach dem Tod ihrer alkoholkranken Mutter haut Ida ab und strandet auf Rügen. Was als Weglaufen vor der Trauer und Schuldgefühle beginnt, führt auf Rügen – eher zwangsweise – zu einer Aufarbeitung ihrer Gefühle. 

Caroline Wahl macht ihr keine kitschige Road Trip-Geschichte daraus, sondern geht tief rein in das Seelenleben ihrer Protagonistin. Auf dem Umschlag des Buches steht ein Zitat von Benedict Wells: “Caroline Wahl findet das Besondere im Alltäglichen und das Tröstliche im Schmerzvollen.” Besser kann man nicht beschreiben, wie ihre Romane funktionieren. Sie findet einzigartige, eindringliche Beschreibungen für Gefühle und Gedanken, die mich bis ins Mark treffen. Daneben sind es die starken Dialoge, die durch ihre Präzision und ihre Knappheit doppelte Wucht haben.

Beim Lesen habe ich mich nicht nur einmal gefragt, wie viele persönliche Erfahrungen der Autorin in diesem Buch (und seinem Vorgänger) stecken. Wie präzise sie den Umgang mit einer Mutter, die Alkoholikerin und die daraus resultierenden Folgen schildert, hat mich tief beeindruckt und nicht nur einmal zum Weinen gebracht. Mit Ida hat Caroline Wahl außerdem eine nun erwachsene Figur erschaffen, die mir in ihrer Art noch viel näher ist als ihre große Schwester Tilda. Ich mag Idas Wut, ihren schwarzen Humor und ihre Unerschrockenheit, von der ich mir gern eine Scheibe abschneiden würde.

Ich mochte aber auch wie man eher beiläufig erfährt, wie es bei Tilda und Viktor weitergegangen ist, deren Liebesgeschichte in “22 Bahnen” begann. Übrigens kann man “Windstärke 17” auch lesen, ohne “22 Bahnen” gelesen zu haben. Das Buch ist so konzipiert, dass es auch als eigenständige Geschichte funktioniert. 

 

Mein Fazit:

Ich weiß nicht, was das Lesejahr 2024 noch so bringt, aber aktuell ist “Windstärke 17” mein Highlight des Jahres. Seit langem hat mich kein Roman mehr so bewegt wie dieser. Idas Familiengeschichte, das Setting auf Rügen – bei überwiegendem schlechtem Wetter, was mein Highlight ist, weil ich Rügen – die Sonneninsel – genau so kenne. Die Fortsetzung von “22 Bahnen” ist ein echtes Herzensbuch für mich und hat auf jeden Fall einen Platz in meinen all time favorite Top 10 Büchern verdient. Es gibt jetzt nur ein Problem: Dieses Leseerlebnis kann Caroline Wahl eigentlich nicht mehr toppen. Aber hey, no pressure… 

 
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