|Rezension| Vergiss mich – Alex Schulman

von | Juni 18, 2025 | 0 Kommentare

„Vergiss mich“ – Wenn der Blick zurück wehtut und zugleich heilt

Verlag: dtv
Originaltitel: Glöm mig
Übersetzung: Hanna Granz
Gebundene Ausgabe: 23,00 Euro
Ebook: 16,99 Euro
Erscheinungsdatum: 15.05.2025
Seiten: 256

„Jeden Morgen erwache ich mit derselben Angst – je mehr Nachrichten, desto ausfälliger sind sie im Ton. Und Mama schreibt Dinge, die so verletzend und kränkend sind, dass etwas in mir kaputt geht. Ich bin nicht traurig. Ich habe nur Angst. dass es unmöglich wird, sich je wieder zu versöhnen. (…) Manche Dinge, die sie schreibt, werde ich mein Leben nicht vergessen.“ (S.122)

Inhalt

Es ist Sommer. Alex Schulman kommt ins Landhaus seiner Mutter, um sie davon abzuhalten, sich zu Tode zu trinken. Und sie zu überzeugen, sich in eine Entzugsklinik einzuweisen. Und er fragt sich: Was genau ist passiert, wie ist aus der schillernden, liebevollen Mutter dieses geisterhafte Wrack geworden? In Erinnerungen erzählt Alex Schulman vom Auseinanderbrechen der Beziehung zwischen Mutter und Sohn und vom verzweifelten Versuch des erwachsenen Kindes, ihr die Hand zu reichen, als die Kluft zwischen ihnen am größten ist.

Mein Eindruck

Ich habe schon einige Romane gelesen, die aus der Sicht eines Kindes – im Kindesalter oder als erwachsener Mensch – um das Leben mit einem alkoholkranken Elternteil drehen. Es ist ein Thema, das mich persönlich sehr berührt. In guten Phase scheue ich die Auseinandersetzung mit diesem Thema nicht. Es gibt aber auch Phasen, in denen es zu weh tut, eigene Erfahrungen, in diesen Büchern wiederzufinden.

Bisher waren alle Bücher, die ich dazu gelesen habe, fiktional. „Vergiss mich“ von Alex Schulman hat eine andere Qualität – eine, die tiefer geht. Denn hier schreibt kein Romanautor aus der Distanz einer erfundenen Figur, sondern ein Sohn, der zurückblickt auf seine Kindheit mit einer alkoholkranken Mutter. Diese Unmittelbarkeit hat mich besonders getroffen. Schulman schildert seine Erfahrungen mit einer schonungslosen Offenheit, die beim Lesen weh tut – im besten Sinne des Wortes.

Was mich besonders beeindruckt hat, war seine Auseinandersetzung mit dem Thema Co-Abhängigkeit. In fiktiven Werken wird diese oft ausgespart oder nur am Rand erwähnt. Schulman aber stellt sie ins Zentrum – und macht deutlich, wie prägend und zerstörerisch diese Dynamik für Kinder in suchtbelasteten Familien sein kann. Auch das Schweigen innerhalb der Familie, das systematische Wegsehen, das Tabuisieren – all das beschreibt er eindringlich. Die Folgen dieses Schweigens – die Scham, die Sprachlosigkeit, das Gefühl von Schuld – ziehen sich wie ein roter Faden durch seine Erinnerungen.

Trotz aller Schwere ist Schulmans Ton niemals anklagend. Das hat mich sehr berührt. Er erhebt keine moralische Stimme gegen seine Mutter, sondern schreibt mit einer melancholischen Wärme, die erkennen lässt, wie tief die Liebe zu ihr einst war – und vielleicht auch geblieben ist. Statt zu verurteilen, stellt er Fragen: Wie konnte es so weit kommen? Wo lagen die Ursachen? Was ist passiert mit der Mutter, die einmal liebevoll war – und später in Ignoranz und Wut versank?

Ein einziges (sehr persönliches) Problem hatte ich mit dem Ende. Es wirkte auf mich – nach allem, was vorher beschrieben wurde – fast zu versöhnlich. Doch wie kann ich das einem Menschen vorwerfen, der seinen eigenen Weg durch ein Kindheitstrauma sucht und ihn, auf welche Weise auch immer, findet? Ich freue mich für jeden, dem es gelingt, trotz solcher Erfahrungen hoffnungsvoll und versöhnlich in die Zukunft zu blicken.

Elke Heidenreich hat „Vergiss mich“ als ein tröstliches Buch beschrieben. Und obwohl es beim Lesen sehr schmerzt – vor allem dann, wenn man eigene Erinnerungen darin wiederfindet –, stimme ich ihr zu. Es ist tröstlich. Weil es zeigt, dass man über das Unsagbare sprechen kann. Dass es möglich ist, Worte zu finden für das, was lange im Verborgenen lag. Und weil es von einem Menschen erzählt, der den Mut hat, sich selbst und seine Familie ehrlich anzusehen – ohne Hass, ohne Schuldzuweisung, aber mit großer Klarheit.

Mein Fazit:

„Vergiss mich“ ist ein zutiefst bewegendes, autobiografisches Buch über das Aufwachsen mit einer alkoholkranken Mutter – ehrlich, schmerzhaft und gleichzeitig voller menschlicher Wärme. Alex Schulman erzählt ohne Pathos, aber mit großer Tiefe. Für Menschen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben, kann dieses Buch ein Spiegel sein – und ein Trost.
Mich hat es so sehr berührt, dass ich nun unbedingt seinen Roman „Die Überlebenden“ lesen möchte, der auf den in “Vergiss mich” beschriebenen Erinnerungen aufbaut.

 
Vielen Dank an den Netgalley und dtv für dieses Rezensionsexemplar.
 
 
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