|Rezension| Die Erbschaft – Connie Palmen
Mit Connie Palmen raus aus der Leseflaute
„Es gibt solche ekelhaft positiven Menschen (…), solche Typen vom Schlag Etty Hillesums, die du hinter Stacheldraht sperren kannst. die du schlagen kannst, demütigen, durch den Dreck ziehen und verhungern lassen, und sie krepieren mit dem nach wie vir hehren Glauben an das Gute im Menschen und die Glückseligkeit des eigenen Schicksals, aber so eine bin ich nicht. Ich denke nicht daran, mein Unglück zu segnen. Ich betrauere es, jeden Tag.” (S.66f.)
Inhalt
Der bewegende Roman über eine Schriftstellerin, die, unheilbar erkrankt, einen jungen Mann mit ihrem literarischen Vermächtnis betraut. Stück für Stück führt sie ihn ein in ihren geistigen Kosmos. Die faszinierende Darstellung einer ungewöhnlichen Beziehung zwischen zwei Menschen.
Mein Eindruck
Ich habe “I.M.” von Connie Palmen schon mit Begeisterung gelesen, aber spätestens seit “Logbuch eines umbarmherzigen Jahres” bin ich der Autorin ergeben. Sie ist meine Garantin für die Aufhebung einer Leseflaute. In den letzten Wochen habe ich gefühlt 30 Bücher an- und wenige auch zu Ende gelesen, aber keines konnte mich so recht begeistern. Also musste ein älteres Werk von Connie Palmen herhalten. “Die Erbschaft” erschien bereits 2001, lässt sich aber auch 20 Jahre später noch genießen und hat nicht an Aktualität verloren.
In diesem Roman beauftragt die unheilbar kranke Schriftstellerin Lotte Inden den Mittdreißiger Max, sich um sie und ihr literarisches Vermächtnis, dem “großen Roman”, zu kümmern. Anders als in den oben genannten Werken steht in “Die Erbschaft” nicht die zwischenmenschliche Ebene im Fokus, sondern eher die Bedeutung von Literatur. Weite Teile des Buches sind Reflektionen über die Entstehen, das Begreifen und die Bedeutung von Literatur. Erzählt wird die Geschichte rückblickend und chronologisch aus der Sicht von Max. Er erzählt vom Kennenlernen mit Lotte Inden, deren Leben (wenig erstaunlich) ziemlich auffällige Parallelen zum Leben der Autorin aufweist, von den ersten Gesprächen mit ihr, die ihn in Ehrfurcht versetzen und von der zarten Annäherung, einer entstehenden Freundschaft und vielen, vielen intensiven Dialogen über Lottes Arbeit und die Literatur im Allgemeinen. Bibliophile Menschen kommen hier voll auf ihre Kosten. Allein die Bezeichnung von Lottes Bibliothek als “Erbgut” lässt erkennen wie viel Liebe zur Literatur in diesem Roman vorhanden ist. Zu gerne hätte ich Max beigewohnt, wie er Randbemerkungen, Notizzettel und markierte Zitate aus Lottes “Erbgut” extrahiert, die als Bausteine für den “großen Roman” dienen.
Was ich in diesem Roman allerdings vermisse, ist der emotionale Tiefgang. Die zarte Liebesgeschichte bleibt zart und dient eher als Rahmenhandlung. Dabei kann Palmen so grandios über Gefühle schreiben. Überhaupt hat sie einen unverwechselbaren Schreibstil. Mit einer Leichtigkeit formuliert sie Gedanken, die jeder kennt, aber keiner so schön in Worte fassen wie sie. Das gelingt ihr auch in “Die Erbschaft”, nur eben ohne den aus “I.M.” und “Logbuch eines umbarmherzigen Jahres” bekannten emotionalen Tiefgang. Dieses Buch hat einen starken philosophischen bzw. literaturwissenschaftlichen Fokus, was es nicht zu einem schlechten Buch macht, nur eben auch nicht zu einem, dem man sich so verbunden fühlt wie den anderen beiden, die ich vorher las.
Mein Fazit:
“Die Erbschaft” ist ein kurzweiliger Roman für literaturinteressierte Menschen, der sich mit der Bedeutung des Lesens, Formen von Nähe und Distanz, Krankheit und Tod beschäftigt. Wer die Emotionalität von “I.M.” und “Logbuch eines unbarmherzigen Jahres” sucht, wird vermutlich ein wenig enttäuscht sein. Lesenswert ist “Die Erbschaft” allein aufgrund Connie Palmens unverwechselbarer, fabelhaften Art zu Erzählen allemal.