|Rezension| Botanik des Wahnsinns – Leon Engler
Ein Roman zwischen Psychiatrie und Poesie

„Wir sagten nicht, was wir gerne gesagt hätten. das taten wir nie. Wir waren aber auch nie zufrieden mit dem, was wir stattdessen sagten. Es blieb an der Oberfläche. Darunter sammelte sich, wie Staub unter einer alten Couch, das Nicht-Gesagte.“ (S.15)
Inhalt
Als bei der Zwangsräumung der Wohnung seiner Mutter durch eine Verwechslung alles von Wert in die Müllverbrennungsanlage wandert, bleibt dem Erzähler wortwörtlich nur der Abfall der eigenen Familiengeschichte. Wie hat es so weit kommen können? Der Erzähler blickt auf die Biografie seiner Familie: ein Stammbaum des Wahnsinns. Die Großmutter bipolar, zwölf Suizidversuche, der Großvater Stammkunde in Steinhof, die Mutter Alkoholikerin, der Vater depressiv. Und er blickt auf seinen eigenen Weg: Eine Kindheit im Münchner Arbeiterviertel. Die frühe Angst, verrückt zu werden. Die Flucht vor der Familie ins entfernte New York. Jahre in Wien mit Freud im Kaffeehaus. Und wie er schließlich doch in der Anstalt landet – als Psychologe. Bei der Arbeit mit den Patienten lernt er, dass ein Mensch immer mehr ist als seine Krankheit, dass Zuhören wichtiger ist als Diagnostizieren. Vor allem aber muss er sich bald die Frage stellen, was das sein soll: ein normaler Mensch.
Mein Eindruck
Es gibt ja dieses Klischee über Psycholog:innen: “„Die haben selbst einen an der Waffel und wollen sich selbst therapieren.” Leon Engler wäre dann also das wandelnde Klischee. Getrieben von der Angst aufgrund seiner Anlagen “verrückt zu werden” wird er selbst Psychologe. Darüber und über seine herausfordernde Familiengeschichte schreibt er in seinem autofiktionalen Roman “Botanik des Wahnsinns”. Jetzt könnte man sich natürlich fragen: Warum sollte ich das lesen? In meinem Fall war es die Neugier darauf wie der Autor diese Angst, in die Fußstapfen seiner Familie zu treten, verarbeitet, denn diese Angst – und jetzt wird es persönlich – kann ich sehr gut nachvollziehen. Ich finde es sehr, sehr bemerkenswert darüber einen Roman zu schreiben. Noch bemerkenswerter ist allerdings, wie Leon Engler diesen Roman schreibt. Und dann noch dieser unfassbar gute Titel, der so genial zum Inhalt dieses Buches passt.
Es ist gar nicht so leicht, in Worte zu fassen, wie dieser Roman aufgebaut ist: Zum einen der Ich-Erzähler Leon von seinem Leben als junger Erwachsener, wie er auf der Suche nach dem richtigen Platz im Leben ist. In Rückblenden erzählt er aber auch von seiner Kindheit und Jugend sowie weiter zurückreichend von der Vergangenheit seiner Eltern und Großeltern, die allesamt mit psychischen Erkrankungen zu kämpfen hatten bzw. haben. Aufgrund der Fülle von verschiedenen psychischen Krankheiten in seiner Familie, sieht Leon sich immer wieder mit der Angst konfrontiert, auch mit einer psychischen Erkrankung diagnostiziert zu werden und beschäftigt sich deshalb eingängig mit der Thematik – bis hin zum Psychologie-Studium.
Was das Buch also besonders macht, ist Leon Englers ungewöhnliches Konzept: Er mischt ganz persönliche Erlebnisse und Erfahrungen mit philosophischen Zitaten, pointierten Beobachtungen aus der Psychiatrie und streut Fachwissen zu verschiedenen Erkrankungen und Therapien ein. Tief beeindruckt hat mich auch die schonungslose Offenheit des Autors. Sehr reflektiert, ohne zu verurteilen oder zu beschönigen schreibt er über psychische Erkrankungen, deren Diagnostik und Therapie – aus der Sicht eines (zwar nicht unmittelbar) Betroffenen und eines Arztes zugleich. Dabei kommt aber auch der Humor nicht zu kurz, so dass der Roman insgesamt einen Sog entwickelt, den ich nicht erwartet hätte. Beispielhaft für die Tonalität von “Botanik des Wahnsinns” ist folgender Dialog zwischen Leon und seiner Vorgesetzten in der Psychiatrie: “…Das Ziel ist nicht, dass die Menschen glücklich werden. Das bin ich auch nicht.” “Sondern?” “Wir versuchen hier, schreckliches Elend in ganz normales Unglück zu verwandeln.” (S.87)
Englers Schreibstil ist ungewöhnlich: kurze, pointierte Sätze, immer wieder mit Gedanken, die lange bei mir hängen blieben. Das macht den Text zwar nicht zu einer leichten Kost – aber zu einer lohnenden. Wer einen klassischen Spannungsbogen oder gemütliche Unterhaltung sucht, wird hier nicht fündig. Wer sich aber auf psychologischen Tiefgang einlassen kann und keine Angst vor unbequemen Themen hat, könnte hier sehr viel finden.
Mein Fazit:
“Botanik des Wahnsinns” ist kein Buch, das man einfach wegliest. Es ist eine Mischung aus Familienchronik, philosophischer Abhandlung (“Was ist schon normal?”) und psychologischem Fachbuch – verpackt in einen ungewöhnlichen Erzählstil. Für alle, die sich für das Zusammenspiel von Herkunft, Krankheit und dem, was wir „Normalität“ nennen, interessieren, ist dieses Buch eine spannende und außergewöhnlich bereichernde Lektüre. Für mich war es in dem bisherigen Lesejahr DAS Highlight schlecht hin und ich wünsche mir, dass “Botanik des Wahnsinns” den Deutschen Buchpreis gewinnt. Dieses besondere Buch hätte es wirklich verdient.