|Rezension| Anatomie einer Affäre – Anne Enright
Die Sektion einer Affäre ohne rosarote Brille
„Wenn Liebe eine Art Wissen ist, dann konnte er mich gar nicht lieben, denn er hatte nicht die leiseste Ahnung. Es war ein seltsames Gefühl. Unserer Liebe war eine elementare Kraft abhanden gekommen, so als würde man der Welt mitteilen, dass die Schwerkraft doch nicht existiert. Er kannte mich nicht. Er kannte sein eigenes Bett nicht.“
Inhalt
Es ist nicht Liebe auf den ersten Blick, als Gina den Familienvater Seán Vallely bei einem Gartenfest kennenlernt. Doch dann treffen sie einander zufällig bei einem Kongress wieder, trinken zu viel, landen im Bett – und verfallen einander. So beginnt eine verhängnisvolle Affäre, die lange Zeit vor den Ehepartnern geheim gehalten wird. Bis etwas geschieht, das beide vor eine schwierige Entscheidung stellt …
Mein Eindruck
Roman über eine amour fou gibt es wie Sand am Meer. Warum sollte man also diesen Roman von Anne Enright lesen, in dem es um die Affäre einer verheirateten Frau mit einem verheirateten Mann geht? Die Antwort ist einfach: Weil die Autorin gänzlich auf große Emotionen, heiße Sexszenen und und ein rosarotes Happy End verzichtet. Stattdessen legt sie den Fokus auf die Schwierigkeiten und Konsequenzen einer solchen Verbindung. Der deutsche Titel “Anatomie einer Affäre” ist insofern mehr als passend, weil Enright diese Affäre beispielhaft seziert.
Aus der Sicht der weiblichen Protagonistin, die aus unerklärlichen Gründen von einem verheirateten Mann angezogen wird (es ist keine klassische Liebe auf den ersten Blick), die sich von ihrem Partner immer mehr entfremdet und stattdessen immer mehr in das Leben des anderen Mannes eintaucht. Es ist schwierig, inhaltlich ins Detail zu gehen, ohne zu spoilern. Nur so viel: Als Leser blickt man sehr tief in Ginas Seele. Ihre ambivalenten Gefühle Sean gegenüber, seiner Familie gegenüber und auch sich selbst gegenüber (sie als böse Ehebrecherin, die andere Menschen unglücklich macht) sind exzellent herausgearbeitet.
Während Gina ihre Affäre mit Sean rekapituliert springt sie in den Zeiten hin und her, was gelegentlich etwas verwirrend bzw. nervig war. Andererseits wirkte diese unsortierte Erzählweise dadurch wie ein authentischer Lebensbericht. Beim Lesen hatte ich den Eindruck, als würde mir eine Bekannte von ihrer Vergangenheit erzählen und sich dabei – ähnlich wie in einem echten Gespräch immer mal weider verfransen.
Obwohl die Autorin eher die Schattenseiten einer Affäre beleuchtet, ist “Die Anatomie einer Affäre” keine Lektüre, die einen runterzieht. Zu verdanken ist das der Ironie, mit der Gina über ihre Beziehung zu Sean (und zu ihrem Mann Conor) erzählt. Besonders großartig finde ich die Kapitelüberschriften, die völlig im Kontrast zum leicht schnoddrigen und ironischen Erzählstils des Romans stehen: Jedes Kapitel ist nämlich mit dem Titel eines Liebeslieds überschrieben. Normalerweise würde das höchst kitschig wirken, aber in diesem Buch bekämpft Enright förmlich den Kitsch, indem sie mit den Songtiteln aufzeigt: Alles was Gina hier erlebt, haben vor ihr schon viele andere erlebt.
Ich war schon ab der Mitte des Romans unglaublich gespannt auf das Ende und habe befürchtet, dass Enright vielleicht am Ende ihre Abneigung gegen Kitsch und Klischee vergisst, aber – Halleluja! – das hat sie nicht. Es sei so viel verraten: Der Roman endet nicht mit einer happy Patchwork-Family-Party…
Mein Fazit:
Ich habe mich ein bisschen verliebt in Anne Enrights Art zu schreiben: Manchmal leicht ordinär, mit viel Ironie und sprachlichem Feingefühl beleuchtet sie in “Anatomie einer Affäre” die Seiten einer amour fou, über die sonst keiner schreibt. Über was sie schreibt, könnte einen unglücklich machen, aber wie sie schreibt, ist absolut beglückend. Wer sich prickelnde Erotik und leidenschaftliche Gefühle erhofft, wird sicher von diesem Roman enttäuscht sein. Wer aber intelligente und originelle Unterhaltung über ein Thema, das so alt ist wie die Menschen, sucht, kann mit diesem Buch nichts falsch machen.