|Rezension| Der Stotterer – Charles Lewinsky
Ein kreativer Roman über die Macht des geschriebenen Wortes
„Das ist die Macht der Literatur: Sie kann auch in kleinen Seelen große Gefühle erwecken. Der eine braucht eine Eurydike, damit er entflammt, beim anderen reicht eine Veronica. Bachs h-Moll-Messe oder Andrè Rieu, beides kann einen Zuhörer zu Tränen rühren.“ (S.84)
Inhalt
Weil er Stotterer ist, vertraut er ganz auf die Macht des geschriebenen Worts und setzt es rücksichtslos ein, zur Notwehr ebenso wie für seine Karriere. Ein Betrug – er nennt es eine schriftstellerische Unsorgfältigkeit – bringt ihn ins Gefängnis. Mit Briefen, Bekenntnissen und erfundenen Geschichten versucht er dort diejenigen Leute für sich zu gewinnen, die über sein Los bestimmen: den Gefängnispfarrer, den Drogenboss, den Verleger.
Mein Eindruck
Briefromane haben für mich schon immer einen besonderen Reiz: Bei einer Geschichte, die nur in Form von Briefen erzählt wird, bleibt dem Leser das verborgen, was außerhalb der Briefe geschieht. Bei Charles Lewinskys “Stotterer” wird der Spannungsbogen besonders gespannt, weil die Briefe (ergänzt durch kleine Geschichten und Tagebucheinträge) nicht – wie sonst üblich – von (mindestens) zwei Verfassern sind, sondern lediglich von einem, dem Stotterer. Hosea Stärckle, so der Name des Stotterers, hat sich aufgrund seiner Sprachstörung früh dem geschriebenen Wort verpflichtet und seine große Stärke darin entdeckt. Er schreibt aus dem Gefängnis an den Gefängnispfarrer, den Padre, Briefe, die dieser zwar teilweise auch beantwortet, die dem Leser aber verborgen bleiben. Damit wird die Vorstellungskraft des Lesers besonders gefordert, da er sich nicht nur die realen Ereignisse abseits der Briefe, sondern auch die Antwort-Briefe des Pfarrers selbst zusammenreimen muss.
In den Briefen an den Padre erzählt der Stotterer nach und nach Episoden aus seiner Kindheit, seinen ersten beruflichen Gehversuchen und seiner Berufung, die ihn letztlich auch ins Gefängnis gebracht hat. Wie Charles Lewinsky in dieser Form bröckchenweise eine spannende Geschichte über einen machtbesessenen Pfarrer erzählt, der seine Gemeinde wie ein Sektenguru führt und damit nicht nur im Leben des Stotterers irreparablen Schaden anrichtet, zeugt von großem schriftstellerischen Können. Auch die Originalität der Geschichte und die sprachlichen Finessen sind in dieser Form einzigartig und brillant. Lewinsky überlässt es dem Leser, über Wahrheit und Unwahrheit zu entscheiden. Der Stotterer schreibt dem Gefängnispfarrer Episoden aus seinem Leben und betont dabei, dass nicht alles der Wahrheit entspricht. Welche Gegebenheiten sich also tatsächlich zugetragen haben, bleibt bis zuletzt unklar. Letztlich spielt das aber gar keine entscheidende Rolle. Der Leser wird den Roman am Ende trotzdem mit einem amüsierten Lächeln zuklappen.
Einzig die immer wiederkehrenden Bibelzitate haben mir das Lesen ein wenig verleidet. Als Atheistin, die ganz und gar nicht bibelfest ist, haben mich die vielen Verweise auf die Bibel und deren Auslegung stellenweise überfordert und letztlich auch genervt. Man kann das Charles Lewinsky nicht wirklich vorwerfen, da die entsprechenden Stellen im Buch durchaus clever in den Kontext eingeflochten sind, aber mir war das insgesamt einfach zu viel biblischer Stoff. Spannend – und gegensätzlich dazu – waren hingegen die Schopenhauer-Zitate, die der Stotterer ebenso an geeigneter Stelle in seinen Briefen einfließen lässt.
Mein Fazit:
Wer genervt ist von den immer wieder gleichen Plots in Romanen, sollte unbedingt Charles Lewinskys “Der Stotterer” lesen. Was hier an Kreativität und Originalität geboten wird, ist kaum zu übertreffen. Auch der Sprachwitz des Autors und sein starker Protagonist sind gute Gründe, dieses Buch zu lesen. Wer noch dazu Interesse an der Bibel und deren Inhalten hat, wird an dieser Geschichte seine wahre Freude haben.