|Rezension| Die andern sind das weite Meer – Julie von Kessel
Familie ist das, was du draus machst
„Was hätte sie darum gegeben, jetzt mit ihrer Mutter sprechen zu können. Stattdessen zog sie ihr Handy aus der Tasche. Ablenkung war gut, seit der Diagnose hatte sie fast jede freie Minute auf den Bildschirm gestarrt. Bloß keinen Leerlauf entstehen lassen. Ein Moment der Leere bedeutet, dass sie an ihre Mutter dachte und an ihre Krankheit.“ (S.63)
Inhalt
In ihrem neuen Roman erzählt Julie von Kessel von einer modernen Familie, in der jeder allein in seiner Krise steckt und niemand in der Lage ist, die Verantwortung für den anderen zu übernehmen. Bis ein Ereignis die Kinder zwingt, endlich erwachsen zu werden.
Familie Cramer droht die Zerreißprobe. Dabei waren sie einst eine Vorzeigefamilie. Ein erfolgreicher Diplomatenvater mit einer schönen Frau und drei wohlgeratenen Kindern. Erst Jahrzehnte später, Mutter Maria ist längst gestorben und die Kinder erwachsen, zeigen sich die Risse im Familienfundament. Und als der Patriarch in eine Demenz schlittert, drohen aus den Rissen einstürzende Wände zu werden.
Luka ist als Fernsehreporterin kaum je zu Hause, Tom mit der Leitung seiner psychiatrischen Klinik beschäftigt, und Elena steigert sich in ihre Jugendliebe hinein, weil sie vor einer unangenehmen Wahrheit die Augen verschließt.
In dem Glauben, von den anderen nicht verstanden zu werden, trägt jeder sein eigenes Päckchen – bis der Vater spurlos verschwindet.
Mein Eindruck
Aufmerksam wurde ich auf Julie von Kessels Roman “Die andern sind das weite Meer” durch seinen Titel, der mich an eines meiner Lieblingsgedichte von Mascha Kaléko erinnert. In dem gleichnamigen Gedicht “Die andern sind das weite Meer” heißt es: „Die andern sind das weite Meer. Du aber bist der Hafen.“ Diese Zeilen drücken sowohl Sehnsucht als auch Geborgenheit aus – Gefühle, die auch in von Kessels Roman eine zentrale Rolle spielen könnten, dachte ich. Und ich lag damit gar nicht so falsch, denn was ich bekam, war ein komplexes Familienporträt, das die inneren Konflikte und die Dysfunktionalität einer Familie mit literarischem Feingefühl offenlegt.
Im Mittelpunkt der Geschichte stehen drei erwachsene Kinder, die sich um ihren demenzkranken Vater Hans Cramer kümmern sollen. Hans Cramers Demenz ist dabei nicht nur eine Diagnose, sondern ein Katalysator für das familiäre Ungleichgewicht. Die drei Geschwister schwanken zwischen Pflichtgefühl und Überforderung, zwischen Liebe und Distanz. Jeder von ihnen trägt sein eigenes emotionales „Päckchen“ und sucht neben Lösungen für die eigenen Probleme auch nach Rechtfertigungen, um sich nicht vollständig der Pflege des Vaters widmen zu müssen. Dabei hält Julie von Kessel uns den Spiegel vor: Wie oft ist es leichter, vor einer unbequemen Wahrheit die Augen zu verschließen, als sie zu akzeptieren?
Julie von Kessels Schreibstil ist ebenso eindringlich wie einfühlsam. Sie schreibt mit einer klaren, präzisen Sprache, die auf Effekthascherei verzichtet und dennoch viel Raum für Emotionen lässt. Ihre Beschreibungen sind atmosphärisch dicht, ohne überladen zu wirken, und schaffen es, die innere Zerrissenheit der Figuren genauso greifbar zu machen wie die beklemmende Schwere der familiären Situation. Besonders beeindruckend ist, wie die Autorin es schafft, unausgesprochene Gefühle und unausweichliche Spannungen subtil zwischen den Zeilen zu platzieren. Die Dialoge wirken dabei authentisch und tragen dazu bei, die komplexen Beziehungen zwischen den Figuren sichtbar zu machen. Es gibt keine geschönten Antworten, keine idealisierten Momente – stattdessen zeichnet sie ein realistisches Bild, das umso stärker nachhallt, weil es so nah am Leben ist.
Das Magazin “Buchkultur” beschreibt den Roman mit „Ein berührender Familienroman über Zusammenhalt voller Witz und Tiefe“. Ich persönlich konnte darin nichts Witziges entdecken – und das ist kein Manko, sondern eine Stärke. Statt oberflächlicher Heiterkeit und vermeintlich witzigen Anekdötchen, die einem dementen Menschen widerfahren können, bietet das Buch eine ernste Auseinandersetzung mit existenziellen Themen wie Verantwortung, Zusammenhaltung und dem Umgang mit Krankheit und Vergänglichkeit. Wer eine leicht-lockere Lektüre erwartet, wird enttäuscht sein. Wer jedoch bereit ist, sich auf eine ernsthafte und vielschichtige Geschichte einzulassen, wird vielleicht Trost finden in der Tatsache, dass es “unter jedem Dach ein Ach” zu finden gibt.
Mit ihrem Roman gelingt Julie von Kessel ein feinfühliges und doch schonungsloses Porträt einer Familie. Die literarische Anlehnung an Kalékos Gedicht bleibt subtil – der Hafen, den die Figuren suchen, ist keiner der Geborgenheit, sondern einer des Aushaltens. Genau das macht den besonderen Reiz dieses Buches aus.
Mein Fazit:
“Die andern sind das weite Meer” ist ein intensives, nachdenklich stimmendes Buch über das, was Familien zerbrechen lässt aber auch darüber, was sie wieder zusammenführen kann. Julie von Kessel hat mich durch die Tiefe, mit der sie Themen bearbeitet, die starken Figuren und die psychologische Präzision voll und ganz in ihren Bann gezogen. Eine klare Empfehlung für Leser:innen, die ein spannendes Familienporträt lesen möchten und Widersprüche aushalten können.