|Rezension| Die Ausweichschule – Kaleb Erdmann
Erinnern, zweifeln, schreiben: Kaleb Erdmanns „Die Ausweichschule“

„Mich noch stärker nach innen auszurichten, das ist, als würde man in einem brennenden Zimmer zur Entspannung eine Duftkerze anzünden.” (S.60)
Inhalt
Am letzten Tag der Abiturprüfungen im Jahr 2002 fallen Schüsse im Erfurter Gutenberg-Gymnasium. Unser Erzähler erlebt diesen Tag als Elfjähriger, wird mit seinen Mitschülern evakuiert und registriert in den folgenden Wochen die Hilflosigkeit der Erwachsenen im Angesicht dieser Tat. Mehr als zwanzig Jahre später bricht das Ereignis völlig unerwartet erneut in sein Leben ein und löst eine obsessive Beschäftigung mit dem Sujet aus, die in ein Romanprojekt resultieren soll. Aber warum nach so vielen Jahren alte Wunden aufreißen? Hat er ein Recht dazu? Wie verhält es sich mit seinen Erinnerungen, welche Geschichten hat er so häufig erzählt, dass sie wahr wurden?
Mein Eindruck
Am letzten Tag der Abiturprüfungen im Jahr 2002 fallen Schüsse im Erfurter Gutenberg-Gymnasium. Der Erzähler in Kaleb Erdmanns “Die Ausweichschule” erlebt diesen Tag als Elfjähriger. Er wird mit seinen Mitschülern evakuiert und erlebt in den Wochen danach die Hilflosigkeit der Erwachsenen, die selbst nicht wissen, wie sie mit diesem unfassbaren Geschehen umgehen sollen. Die Schule wird geschlossen, die Kinder kommen in eine sogenannte „Ausweichschule“ am Erfurter Herrenberg.
Zwanzig Jahre später holen die unverarbeiteten Ereignisse von damals den inzwischen als Schriftsteller tätigen Ich-Erzähler wieder ein. Er will ein Buch über das prägende Trauma seiner Kindheit schreiben und beginnt zu recherchieren, was den zentralen Handlungsstrang dieses Romans bildet. Doch die Suche nach Fakten wird schnell zur Suche nach Wahrheit. Wie weit darf er gehen? Wird er, indem er schreibt, die Wunden anderer wieder aufreißen? Oder ist das Schreiben selbst die einzige Form, mit diesen Wunden zu leben? Diese Fragen ziehen sich wie ein feines, nachdenkliches Echo durch das Buch. Erdmanns Erzähler zweifelt immer wieder an der Verlässlichkeit seiner eigenen Erinnerungen: Was ist wirklich passiert, was wurde im Laufe der Jahre von Angst, Schuld oder Scham überlagert? “Als ich ihm (dem Dramatiker, Anm.d.R.) erzähle, das ich über die Jahre selbst immer wieder versucht habe, den Amoklauf literarisch zu bearbeiten, letztlich aber gescheitert bin, aus ganz ähnlichen Gründen, komme ich mir vor, als würde ich einem Architekten erzählen, dass ich auch schon mal ein Legohaus gebaut, am Ende aber nicht genug Teile gehabt hatte.” (S.30)
Es geht ihm auch um spezielle Fragen wie die nach den Ursachen von Gewaltexzessen, nach ihren unmittelbaren Folgen, möglichen Erkenntnissen und Konsequenzen, und natürlich auch um die Spätfolgen und die mentalen Schäden, die dauerhaft zurückbleiben. Denn der Ich-Erzähler selbst hat zwar, wie es im Buch heißt, “den Täter gesehen, aber keine Toten” (S.13), er ist seit damals aber traumatisiert und angstgestört.
Kaleb Erdmanns Roman ist ein gekonntes Spiel mit Perspektiven und Metaebenen und das, ohne den Leser je zu überfordern. “Die Ausweichschule” trägt den Untertitel „Roman“, ist aber zugleich Sachbuch, Autobiografie und Reflexion über das Schreiben selbst. Erdmann, der den Amoklauf als Kind tatsächlich miterlebt hat, verwischt die Grenzen zwischen Realität und Fiktion auf beeindruckende Weise. Dieses Changieren verleiht dem Buch eine enorme Spannung und emotionale Tiefe.
Was mich besonders beeindruckt hat, ist Erdmanns Sprache. Er schreibt präzise und klug, dabei nie verkopft oder distanziert. Zwischen den ernsten Passagen blitzen immer wieder feiner Witz und leiser Sarkasmus auf – genau dosiert, niemals unangebracht. Sein Humor ist von der Sorte, die einem manchmal im Hals stecken bleibt.
Erdmann gelingt damit etwas, das ich für nahezu unmöglich gehalten hätte: Über einen Amoklauf zu schreiben, ohne das Geschehen zu glorifizieren oder emotional auszuschlachten. Er schafft es, über Trauma, Angst und Erinnerung zu erzählen – und dabei eine Sprache zu finden, die berührt, klug ist und an vielen Stellen sogar Freude am Lesen bereitet. Für mich ist es eines der besten Bücher, die ich je gelesen habe. Zurecht steht dieses Buch auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. Um ehrlich zu sein, hätte es mich gewundert, wenn es den Preis auch gewonnen hätte. Bisher habe ich noch keinen Buchpreis prämierten Titel gemocht. “Die Ausweichschule” finde ich allerdings großartig.
Mein Fazit:
Die Ausweichschule ist ein sprachlich wie gedanklich herausragender Roman über Erinnerung, Schuld und das Bedürfnis, Sinn im Unbegreiflichen zu finden. Kaleb Erdmann zeigt, wie Literatur zur Auseinandersetzung werden kann – mit der eigenen Vergangenheit, aber auch mit der Frage, was Erzählungen überhaupt vermögen.