|Rezension| Im Leben nebenan – Anne Sauer

von | Aug. 4, 2025 | 0 Kommentare

„Was wäre, wenn?“ – Zwei Leben, ein Gefühl der Unzulänglichkeit

Verlag: dtv
Gebundene Ausgabe: 23,00 Euro
Ebook: 16,99 Euro
Erscheinungsdatum: 10.07.2025
Seiten: 272

„Sie bereut, dass sie ihrer Freundin die Tür in einen Raum geöffnet hat, in dem sie sich selbst noch nicht auskennt. Von dem sie noch gar nicht weiß, wie sie ihn für sich einrichten soll.“ (S.71)

Inhalt

Eines Morgens erwacht Toni nicht wie gewohnt neben ihrem langjährigen Freund in ihrer kleinen Altbauwohnung, weil die Dielen knarren und die Nachbarn viel zu laut sind. Nein. Zu ihrer Verwunderung befindet sie sich in einer großzügig geschnittenen Wohnung. Alles hell, ordentlich, teuer eingerichtet. Und der Blick aus dem Fenster? Seltsam vertraut. Antonia versteht: Sie ist wieder in dem Dorf ihrer Kindheit. Nach und nach erfährt sie, dass sie hier ein beschauliches Leben führt, bürgerlich geordnet, mit Auto vor der Tür, Schwiegermutter nebenan und Kind auf dem Schoß. Kind auf dem Schoß? Antonia kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus. Ist das etwa ihr Baby? Und der Vater dazu? Offenbar ihre erste große Liebe – ein Mann, den sie nie ganz vergessen konnte.

Mein Eindruck

Vorab: Ich liebe die Idee dieses Romans! Und dieses Cover ist definitiv eines der schönsten dieses Jahres!

Was wäre, wenn ich mich damals anders entschieden hätte? Diese Frage hat sich wohl jeder Mensch schon einmal gestellt. In “Im Leben nebenan” spielt Anne Sauer genau dieses Gedankenexperiment literarisch durch und das auf eine Art, die sowohl emotional mitreißt als auch existenzielle Fragen stellt.

Im Mittelpunkt steht Toni, eine Frau Anfang dreißig, die in zwei verschiedenen Versionen ihres Lebens existiert: In dem einen lebt sie mit ihrem Partner Jakob in einer Altbauwohnung und kämpft mit einem unerfüllten Kinderwunsch. In dem anderen ist sie Antonia, verheiratet mit ihrer Jugendliebe Adam, lebt im Einfamilienhaus ihres Heimatortes und hat ein Baby. Durch die Unterscheidung in der Namensgebung der Hauptfigur zwischen Antonia und Toni und den ständigen Wechsel zwischen beiden Lebensrealitäten gelingt Anne Sauer ein faszinierendes Doppelporträt. Was dabei besonders gelungen ist: Beide Lebensrealitäten wirken gleichermaßen echt und gleichermaßen herausfordernd. Es handelt sich bei diesem Roman nicht um eine platte Gegenüberstellung von einem Leben mit und einem Leben ohne Kind. Vielmehr geht es in beiden Versionen von Tonis Leben um die inneren Kämpfe, den Anforderungen der Gesellschaft gerecht zu werden und um die Erkenntnis, dass es keinen richtigen, einfacheren Weg gibt. Und vielleicht auch darum, zu zeigen, dass das Gras auf der anderen Seite nicht immer grüner ist. 

Die große Stärke des Romans liegt in seiner emotionalen Tiefe und in der schonungslosen Ehrlichkeit, mit der Anne Sauer über Frausein, Kinderwunsch, Mutter sein, gesellschaftliche Erwartungen und Selbstbestimmung schreibt. Dass man es als Frau offenbar nie „richtig“ machen kann – egal ob mit Kind oder ohne – wird hier spürbar, ohne platt oder anklagend zu sein. Stattdessen überzeugt die Autorin mit Empathie und brutaler Ehrlichkeit – und ganz ohne Männer-Bashing. Tatsächlich sind alle Männerfiguren in Tonis Leben – ob nun Adam, Jakob oder Tonis Vater – sympathische Figuren, was ich als sehr angenehm empfand. 

Auch der Schreibstil der Autorin ist sehr angenehm. Ein Satz wie „Wenn aber Sex, der monatelang nach Stundenplan stattfand, plötzlich gar nicht mehr stattfindet, dann ist dieses Nichtstattfinden nichts, das sich lange einfach wegschweigen lässt.“ (S. 57) ist beispielhaft für den Stil des Romans: direkt, ehrlich und schmerzhaft, aber nie zynisch.

Ein kleines Manko: Die Erklärung, wie und warum Toni plötzlich in dem anderen Leben aufwacht, bleibt hinter der starken Grundidee ein wenig zurück. Zwar wird die Geschichte auf eine stimmige Weise zu Ende geführt, doch gerade bei einem so starken Plot wünschte ich mir ein furioseres Ende.

Mein Fazit:

“Im Leben nebenan” ist ein Roman, der unter die Haut geht. Er verhandelt zentrale Fragen weiblicher Lebensentwürfe  feinfühlig, eindrücklich und ohne moralischen Zeigefinger. Wer sich für Literatur interessiert, die emotionale Tiefe mit einer außergewöhnlichen Idee verbindet, sollte dieses Buch lesen. Ein mitreißender Roman über das “Was wäre, wenn…” im Leben einer Frau.

 
Vielen Dank an dtv für dieses Rezensionsexemplar.
 
 
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