|Rezension| Kein Sturm, nur Wetter – Judith Kuckart
Kein Sturm, nur deprimierendes Novemberwetter beim Lesen
„Hat sie sich in ihn verliebt? Und wenn ja, was geht ihn das an? Keiner kann ihr verbieten, in der Vorstellung seine Abwesenheit zu verkehren. Solchen Erzählinstinkt hat jeder. Jedes Gehirn denkt in Geschichten.“ (S.120)
Inhalt
Sonntagabend, Flughafen Tegel: Im Café in der Abflughalle kommt sie mit einem Mann ins Gespräch. Robert Sturm ist sechsunddreißig, achtzehn Jahre jünger als sie. Er ist auf dem Weg nach Sibirien. Am Ende ihrer und seiner Arbeitswoche wird er zurückkommen. Am Samstag. Darauf wartet sie …
Als sie 1981 mit achtzehn nach Westberlin kam und Medizin studierte, lernte sie Viktor kennen, der doppelt so alt war wie sie. Er war die andere, die politische Generation und eröffnete ihr die Welt. Er selbst jedoch blieb ihr verschlossen. Das Leben mit Viktor war ein Abenteuer, aber eines, dessen Gefahren sie nicht teilten. Mit sechsunddreißig – inzwischen in Neurobiologie promoviert – trifft sie zur Jahrtausendwende Johann. Er ist so alt wie sie. Gemeinsam hangeln sie sich durch ihre Liebe; prekär sind nicht nur ihre Arbeitsbiografien.
Samstagvormittag, wieder Flughafen Tegel: Sechs Tage lang haben ihr Alltag und ihre Erinnerungen sich verwoben und einander zu erklären versucht. Warum sind die Männer in ihrem Leben immer sechsunddreißig? Ist sie noch die, an die sie sich erinnert? Oder ist sie, die sich in Sachen Gehirn auskennt, eigentlich das, was sie vergessen hat?
Mein Eindruck
Das Konzept des Romans „Kein Sturm, nur Wetter“ überzeugte mich auf den ersten Blick: Eine Protagonistin, die ihr Leben bzw. ihre Lieben anhand ihres jeweiligen Alters Revue passieren lässt: Mit 54 Jahren, als sie am Flughafen auf einen wesentlich jüngeren Mann (Robert Sturm) trifft, der ihr Interesse weckt, sinniert sie über ihre vergangenen Beziehungen zu Johann und Viktor, mit denen sie liiert war als sie 36 bzw. 18 Jahre war und die wiederum jeweils 18 Jahre älter (Viktor) bzw. genauso alt (Johann) waren wie sie. Die Geschichte beginnt und endet außerdem am Flughafen Tegel – ein weiteres Indinz für die gut durchdachte Rahmenhandlung.
Trotzdem hatte ich mit diesem Roman, dessen Titel ich übrigens bereits vor dem Lesen ansprechend fand, nach dem Lesen aber schlichtweg genial, größere Probleme. Denn während des Lesens stellte sich bei mir leider kein Sturm ein, sondern eher trübes Herbstwetter. Da die Protagonistin bis zuletzt namenlos bleibt, sich nicht weiterentwickelt und der Geschichte durch die vielen unvermittelten Rückblenden die Stringenz fehlt, kam bei mir kein Lesefluss, geschweige denn Lesegenuss auf. Es strengste mich einfach zu sehr an, am Ball zu bleiben. Die Romantikerin in mir hat trotzdem weitergelesen, weil sie natürlich wissen wollte, wie das Wiedersehen mit Robert Sturm verläuft.
“Kein Sturm, nur Wetter” lässt mich also zwiegespalten zurück. Einerseits mochte ich, wie Judith Kuckart ihre Protagonistin immer wieder sich selbst reflektieren lässt. Doch durch die verschiedenen Zeitebenen verlieren sich die einzelnen Reflexionen. Dabei stellt sie wiederkehrende Bezüge her, die man aufgrund ihrer Komplexität unmöglich beim einmaligen Lesen alle erfassen kann. Ich bin sicher, man könnte den Roman noch zweimal lesen und hätte immer noch nicht alle Verweise erkannt. Für manch einen mag das reizvoll sein, mir ist das allerdings zu konstruiert.
Dieser Roman handelt von einer Frau, die sich als Neurologin beruflich mit Gefühlen beschäftigt. Damit steht in ihrer Arbeitswelt das im Zentrum, was ihr im Privatleben immer zu fehlen scheint – egal ob mit 18, 36 oder 54 Jahren. Das Thematisieren von unerfüllten Wünschen und Hoffnungen hat zur Folge, dass dem Buch ein durchweg melancholischer Ton zugrunde liegt. Für meinen Geschmack war das zu viel von allem. Zu viel Stagnation, zu viel Melancholie und zu viele Reflexionen.
Mein Fazit:
Ich tue mich mit einem abschließenden Fazit bei „Kein Sturm, nur Wetter“ wirklich schwer. Ich mochte viele Sätze in diesem Roman, Es steht außer Frage, dass Judith Kuckart schreiben kann. Aber das Konzept dieses Buches hat mich nicht überzeugt. Es wirkt zu konstruiert, zu sehr gewollt und zu distanziert. Ich habe noch „Wünsche“ von ihr ungelesen im Regal stehen, das ich nach wie vor lesen möchte, weil ich davon überzeugt bin, dass die Autorin ihr Potenzial in einem anderen Werk mehr entfaltet hat.