|Rezension| Siegfried – Antonia Baum

von | März 24, 2023 | 0 Kommentare

Eine Roman über den Einfluss der Vergangenheit auf unsere Gegenwart

Verlag: Claasen
Gebundene Ausgabe: 24,00 Euro
Ebook: 19,99 Euro
Erscheinungsdatum: 23.02.2023
Seiten: 256

„Er sah sich in seiner Panik, ich mich in meiner, wir sahen uns dabei zu, wie wir beide zielsicher dorthin gingen, wo wir herkamen, und dann ging alles meistens ganz schnell. Ich starr und bewegungslos wie als Kind. Gebrüll, Gerinne, Türenknallen, das Kind, das weinte, und zum Schluss verließ Alex tütenknallend die Wohnung.“ (S.141)

Inhalt

Eine Frau – Mutter, Partnerin, Versorgerin – fährt eines Morgens nicht zur Arbeit, sondern in die Psychiatrie. Am Abend hat sie sich mit ihrem Partner gestritten, vielleicht ist etwas zerbrochen, jetzt muss sie den Tag beginnen, sie muss die Tochter anziehen, an alles denken, in der Wohnung und ihrem Leben aufräumen. Doch sie hat Angst: das Geld, die Deadline, die Beziehung, nichts ist unter Kontrolle, und vor allem ist da die Angst um ihren Stiefvater, der früher die Welt für sie geordnet und ihr einen Platz darin zugewiesen hat. In der Psychiatrie, denkt sie, wird jemand sein, der ihr sagt, wie ihr Problem heißt. Dort darf sie sich ausruhen.

Siegfried ist ein Roman über alte Ordnungen und neue Ansprüche, über Gewalt und das Schweigen darüber, über eine Generation, deren Eltern nach dem Krieg geboren wurden und deshalb glaubten, er sei vorbei.

Mein Eindruck

Ich muss vorweg nehmen: Ich habe aufgrund des Klappentextes etwas völlig anderes erwartet als der Roman beinhaltete. Enttäuschte Erwartungen sind nicht unbedingt die besten Voraussetzungen für Jubelstürme nach der Lektüre, aber in diesem Fall kann man tatsächlich nicht von einer Enttäuschung sprechen. Aber fangen wir von vorn an…

Ich erwartete einen Plot, in dem eine Frau, die genug hat von ihrer Rolle als Mutter, Partnerin, Tochter und Autorin, in der Psychiatrie sitzt, nachdem sie beschlossen hat, dass sie dort die Ruhe findet, nach der sie sucht und vor allem Lösungen für ihre Probleme. Ich dachte, dass das Thema “Mental Load” und die Probleme, die das Patriarchat hervorruft, im Mittelpunkt der Geschichte stehen würden. Was bekam ich stattdessen? Die Lebensgeschichte einer namenlosen Ich-Erzählerin, die sich immer wieder um Siegfried dreht. Aber wer ist Siegfried? Es ist der Stiefvater der Ich-Erzählerin. Nun könnte man sich die Frage stellen, warum gleich der ganze Roman nach ihm benannt wurde. Womöglich, weil Siegfried das Leben von drei Frauen geprägt hat: das seiner Mutter Hilde, das seiner Ehefrau und das seiner Stieftochter, der Ich-Erzählerin. Siegfried steht sinnbildlich für die patriarchalen Strukturen und deren Auswirkungen auf verschiedene Generationen von Frauen. Aber auch Siegfried ist nur ein Resultat seiner Herkunft. Ich möchte hier nicht ins Detail gehen, aber wie Antonia Baum in Worte fasst, wie prägend unsere Vergangenheit, unsere Herkunftsfamilie und ihre Strukturen, für unsere Gegenwart und Zukunft ist, wenn wir nicht aktiv dagegen steuern, ist beängstigend gut. Es geht um ungesunde Machtverhältnisse, häusliche Gewalt in all ihren schrecklichen Formen, um unbewusste Entscheidungen, die wir aufgrund unserer Vergangenheit treffen. 

Antonia Baum gibt den Lesern einen tiefen Einblick in das Seelenleben und die Vergangenheit ihrer Protagonistin, schildert prägende Ereignisse ihres Lebens, die letztlich in ihrer Summe dazu führten, dass sie jetzt im Wartezimmer der Psychiatrie sitzt. Ihr Schreibstil ist angenehm klar und aufgeräumt. “Siegfried” ist einer der Romane, in denen auf weniger als 300 Seiten so viel Gesagt wird wie in manch einem 500 Seiten Wälzer nicht. Kein Wort ist zu viel, das Ende ist “on point”.

Mein Fazit:

Antonia Baum hat mit “Siegfried” einen Roman geschrieben, der nachhallt. Lange. Sie zeigt, wohin es führen kann, wenn jemand sich immer nur anpasst, in Angst lebt, nie auflehnt und alles totschweigt. Wie unterschwellig, aber stetig Ereignisse aus der Vergangenheit, angelernte Verhaltensmuster und krankhafte Beziehungen sich auf das weitere Leben auswirken. Dies gelingt der Autorin mit viel Feingefühl und notwendigem Abstand. Aufbauend ist die Lektüre von “Siegfried” nicht gerade, aber auf eine verquere Art tröstlich. Wir alle sind das Ergebnis der Summe aus den Ereignissen unserer Vergangenheit. Antonia Baum gibt mit “Siegfried” den Anstoß, das nicht als gegeben und unabänderlich hinzunehmen.

Vielen Dank an den Claasen Verlag für dieses Rezensionsexemplar.
 
 
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