|Rezension| Daheim – Judith Hermann

von | Mai 22, 2021 | 0 Kommentare

Sprachlich herausragend!

Verlag: S. Fischer
Gebundene Ausgabe: 21,00 Euro
Ebook: 18,99 Euro
Erscheinungsdatum: 28.04.2021
Seiten: 192

„Mein Erinnerungsvermögen ist gering. Ich erinnere mich halbwegs an Situationen, die eine kurze Zeit zurückliegen, was vor langer Zeit geschehen ist, habe ich in Einzelheiten fast vergessen. Ich erinnere mich nicht an Details, eher an Stimmungen, Jahreszeiten, an Licht oder Temperatur. (…) Ich habe diese oder jene Geschichte gelesen, habe sie mit Liebe gelesen, ich könnte sie inhaltlich kaum wiedergeben. (…) Ich weiß trotzdem genau, wie ergriffen und getröstet ich von dieser Geschichte gewesen bin.“ (S.58)

Inhalt

Judith Hermann erzählt in ihrem neuen Roman »Daheim« von einem Aufbruch: Eine alte Welt geht verloren und eine neue entsteht.
Sie hat ihr früheres Leben hinter sich gelassen, ist ans Meer gezogen, in ein Haus für sich. Ihrem Exmann schreibt sie kleine Briefe, in denen sie erzählt, wie es ihr geht, in diesem neuen Leben im Norden. Sie schließt vorsichtige Freundschaften, versucht eine Affaire, fragt sich, ob sie heimisch werden könnte oder ob sie weiterziehen soll. Judith Hermann erzählt von einer Frau, die vieles hinter sich lässt, Widerstandskraft entwickelt und in der intensiven Landschaft an der Küste eine andere wird. Sie erzählt von der Erinnerung. Und von der Geschichte des Augenblicks, in dem das Leben sich teilt, eine alte Welt verlorengeht und eine neue entsteht.

Mein Eindruck

“Daheim” ist nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse. Zum Glück habe ich den Roman gelesen bevor er nominiert wurde, denn nach der Nominierung hätte ich ihn wohl nicht mehr gelesen. Zu viele schlechte Erfahrungen mit Buchpreis-Gewinner-Büchern haben mich gelehrt, um diese lieber einen Bogen zu machen.

Judith Hermanns Roman über eine Frau, die nach dem Ende ihrer Ehe einen Neuanfang an der norddeutschen Küste wagt, mag als schmales Büchlein daherkommen. In den nicht mal 200 Seiten steckt allerdings mehr Inhalt als in manch einem 500-Seiten-Roman. Wie macht die Autorin das?

Die Handlung ist schnell nacherzählt: Eine Frau, Ende vierzig, zieht nach der Trennung von ihrem Mann und dem Auszug der Tochter ans Meer in ein Haus in einer verlassenen Gegend. Durch einen Job als “Mädchen für alles” in der Gaststätte ihres Bruder, verdient sie sich ihren Lebensunterhalt. In ihrem neuen Wohnort lernt sie die Künstlerin Mimi und deren Bruder Arild kennen, die fortan – auf unterschiedliche Weise – eine bedeutende Rolle in ihrem Leben spielen. 

Das Besondere an diesem Roman ist nicht seine Handlung, sondern seine Figuren, seine Sprache und die vielen Metaphern, die man wohl in Gänze erst beim mehrmaligen Lesen in ihrer Bedeutung erfassen kann. Judith Hermann schreibt über Wendepunkte im Leben, über das Alleinsein und das Ankommen. Dabei schwankt sie zwischen Erinnerungen und Alltäglichem, wodurch einem der Charakter der Protagonistin trotz spärlicher Informationen immer näher kommt. Durch den Bogen, der permanent zwischen Vergangenheit und Gegenwart gespannt wird, kann man ihre Entwicklung gut nachvollziehen. Spannend ist außerdem die Tatsache, dass sich die weiblichen Figuren im Laufe der Geschichte alle weiterentwickeln, während die männlichen Figuren mit ihrem Leben nicht zu hadern scheinen, obwohl alle drei Männer, die das Leben der Erzählerin in der Gegenwart beeinflussen, durchaus Entwicklungspotenzial hätten.

Was mich an dieser Geschichte fasziniert hat, sind die vielen schönen Sätze, die Präzision mit der Judith Hermann Situationen erfasst und Personen beschreibt. Was mich hingegen unglücklich gemacht hat, war das offene Ende, an dem für meinen Geschmack zu viele Frage offen bleiben. Ähnlich wie bei einer Kurzgeschichte endet der Roman abrupt ohne entscheidende Themen abzuschließen. Während man allerdings bei einer Kurzgeschichte mit einem solchen Ende rechnet, das zum Nach- und Weiterdenken anregt, möchte man in einem Roman doch selbst bei einem offenen Ende gewisse Handlungsstränge abgeschlossen wissen. Bei daheim blieb ich am Ende ratlos und verwirrt zurück. Vielleicht muss ich den Roma ein zweites Mal lesen, damit das Ende für mich mehr Klarheit bringt.

 

Mein Fazit:

Ich kann absolut nachvollziehen, warum “Daheim” von Judith Hermann für den Preis der Leipziger Buchmesse 2021 nominiert ist. Sprachlich ist dieser Roman brillant. Mit wenigen Worten umschreibt sie ihre komplexen Figuren und deren Beziehungen untereinander. Vieles bleibt dabei offen – zum Ende hin zu viel. Nichtsdestotrotz ist “Daheim” ein lesenswerter Roman, der aufgrund der Schönheit seiner Sätze und den vielen unbeantworteten Fragen noch lange nachwirkt.

Vielen Dank an die S. Fischer Verlage für dieses Rezensionsexemplar.
 
 
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