|Rezension| Brüder – Jackie Thomae
Don’t judge a book by it’s cover!
„Emma berührte die Leute, indem sie ihnen die Beschissenheit ihres Daseins so kunstvoll vor Augen führte, dass sie nicht wussten, ob sie lachen oder heulen sollten. Es hielt sich die Waage. Obwohl alle Charaktere sich in der gleichen Gemütslage befanden. Für Emma bestand kein Grund, sich etwas anderes auszudenken als diese ausnahmslos depressiven Figuren, die Leser waren süchtig nach ihnen, (…)“ (S.317)
Inhalt
Mick, ein charmanter Hasardeur, lebt ein Leben auf dem Beifahrersitz, frei von Verbindlichkeiten. Und er hat Glück – bis ihn die Frau verlässt, die er jahrelang betrogen hat. Gabriel, der seine Eltern nie gekannt hat, ist frei, aus sich zu machen, was er will: einen erfolgreichen Architekten, einen eingefleischten Londoner, einen Familienvater. Doch dann verliert er in einer banalen Situation die Nerven und steht plötzlich als Aggressor da – ein prominenter Mann, der tief fällt. Brüder erzählt von zwei deutschen Männern, geboren im gleichen Jahr, Kinder desselben Vaters, der ihnen nur seine dunkle Haut hinterlassen hat. Die Fragen, die sich ihnen stellen, sind dieselben. Ihre Leben könnten nicht unterschiedlicher sein.
Mein Eindruck
Ich hätte diesen Roman wohl nicht gelesen, wenn er mir nicht (unabhängig voneinander) von zwei Personen empfohlen worden wäre, die meinen Buchgeschmack weitestgehend teilen. Weder der schlichte Titel “Brüder” sprach mich (als Einzelkind) an, noch dieses merkwürdig braun-gestreifte Cover (das erst Sinn ergibt, wenn man den Roman gelesen hat), das fast ein bisschen altbacken wirkt.
Ich spürte allerdings schon nach der ersten Seite, dass die zwei Empfehlenden hier offensichtlich richtig lagen, denn obgleich der erste Protagonist Mick, Baujahr 1970, vaterlos aufgewachsen in der DDR bei seiner Mutter, für mich nur ein geringes Identifikationspotential bot, hat mich Jackie Thomae allein aufgrund ihres Schreibstils sofort für sich eingenommen. Wie lässt dieser sich am besten beschreiben? Das Besondere ist wohl diese ausgewogene Mischung aus unprätentiösem Ausdruck und feinsinnigen Formulierungen.
Dieser kommt im zweiten Teil des Buches, in dem Micks Halbbruder Gabriel im Fokus steht, noch besser zum Ausdruck. Überhaupt hat mir dieser Teil noch besser gefallen, als der erste, was wohl zum einen daran lag, dass dieser Teil der Geschichte im 21. Jahrhundert spielt und damit näher am Hier und Jetzt ist, zum anderen aber auch an der Hauptfigur Gabriel, die ich noch spannender fand als Mick, der mir manchmal zu sehr in das Klischee des Lebemanns abrutschte.
Oftmals hat man ja, wenn Männer über Frauen schreiben oder in diesem Fall, wenn eine Frau über Männer schreibt, das Problem, dass die Figuren gekünstelt wirken. Aufgrund der Tatsache, dass Thomae ihre eigene Biografie (Anfang der 1970er Jahre in Ostdeutschland geboren mit afroamerikanischen Wurzeln) ihren beiden Hauptfiguren zugrunde legt, hat man dieses Problem hier nicht. Beide Männer sind in sich stimmige Charaktere, die etwas Entscheidendes gemeinsam haben: den Vater und damit afroamerikanische Wurzeln. Während Mick, der als Teenager nach Westberlin ausreist, nicht mit seinen unbekannten Wurzeln und der damit verbundenen dunkleren Hautfarbe zu hadern scheint, ist sie für Gabriel latent immer ein Thema. Bemerkenswert ist wie dezent die Autorin die Identitätsfrage in ihrem Roman verarbeitet. Sie ist zu keinem Zeitpunkt penetrant, in weiten Teilen auch gar kein Thema und doch essentiell für die Geschichte. Diese Form der Thematisierung ist in ihrer Leichtigkeit eine regelrechte Wohltat zum sonst eher plakativen Umgang mit Rassismus- und Identitätsthemen. Plakativ ist das Thema der Hautfarbe in diesem Roman aber lediglich auf dem Cover.
Ebenfalls herausragend finde ich die starken Frauenfiguren im Roman. Sowohl Micks langjährige Freundin Delia als auch Gabriels Frau Fleur sind unglaublich vielschichtige und spannende Charaktere, über die ich am liebsten noch mehr gelesen hätte. Während Fleur im zweiten Teil eine eigene Stimme bekommt und die Geschichte aus ihrer Sicht in eigenen Kapiteln weitererzählt, ist das bei Delia im ersten Teil leider nicht der Fall. Warum eigentlich nicht? Beiden Figuren, die ebenso wie ihre Männer sehr verschieden sind, strahlen eine beeindruckende Authentizität aus und auch wenn ich mich mit dieser These wohl nicht sehr beliebt mache, behaupte ich, dass kein Mann so authentisch über Frauen schreiben könnte. Diese beiden Charaktere sind exzellent recherchiert und mit so viel Feingefühl gezeichnet, dass hier mit Sicherheit auch viele persönliche Erfahrungen verarbeitet wurden.
Hauptthema von “Brüder” ist also nicht die Hautfarbe der beiden Brüder, sondern wie wir zu dem Menschen wurden, der wir sind. Welche Faktoren beeinflussen ein Leben? Wie viel hat man dabei selbst in der Hand bzw. wie ergeben ist man seinem Schicksal? Auf all diese Fragen gibt Thomae nur indirekte Antworten und lässt dem Leser damit genügend Raum für eigene Gedankenspiele und auch, um sich diese Fragen selbst zu stellen.
Mein Fazit:
In “Brüder” stellt Jackie Thomae mit eindrucksvoller Leichtigkeit die Frage, wer wir sind und was uns zu dem gemacht hat, was wir sind. Sie zeigt, dass zwei Menschen mit ähnlichen Genen, die unter den gleichen Bedingungen am gleichen Ort geboren wurden, zwei völlig verschiedene Lebenswege einschlagen können und erspart uns dankenswerter Weise die große Annäherung als Happy End. Wie die Autorin die Themen “Herkunft” und “Identität” in diesem komplexen Roman verarbeitet, ohne mit der “Rassismus”-Fahne zu schwenken, ist schlichtweg großartig. Dieses Buch sollte ein neues Cover bekommen und dann bitte auf der Bestsellerliste durch die Decke gehen.