|Rezension| Die spürst du nicht – Daniel Glattauer
Charmant verpackte Gesellschaftskritik
„’War es sehr schlimm?’ – Da sieht man, was dabei herauskommt, wenn sich einer vielleicht schon tagelang den Kopf zermartert hat, was er jemanden in so einer beschissenen Situation als Erstes fragen könnte.“ (S.57)
Inhalt
Die Binders und die Strobl-Marineks gönnen sich einen exklusiven Urlaub in der Toskana. Tochter Sophie Luise, 14, durfte gegen die Langeweile ihre Schulfreundin Aayana mitnehmen, ein Flüchtlingskind aus Somalia. Kaum hat man sich mit Prosecco und Antipasti in Ferienlaune gechillt, kommt es zur Katastrophe.
Was ist ein Menschenleben wert? Und jedes gleich viel? Daniel Glattauer packt große Fragen in seinen neuen Roman, den man nicht mehr aus der Hand legen kann und in dem er all sein Können ausspielt: spannende Szenen, starke Dialoge, Sprachwitz. Dabei zeichnet Glattauer ein Sittenbild unserer privilegierten Gesellschaft, entlarvt deren Doppelmoral und leiht jenen seine Stimme, die viel zu selten zu Wort kommen.
Mein Eindruck
Bevor ich mich inhaltlich dem neuen Roman von Daniel Glattauer widme, muss ich betonen, dass sein Debütroman “Gut gegen Nordwind”, der vor mittlerweile 15 Jahren (WTF!) erschien, für mich nach wie vor die beste Liebesgeschichte EVER ist. Kein anderes Buch habe ich so oft gelesen. Kein anderes Buch ist mir so lange im Kopf geblieben. Kein anderes Ende eines Romans hat mir ein “Ist das dein scheiß Ernst?” in dieser Heftigkeit entlockt wie “Gut gegen Nordwind”.
Nun schreibt Daniel Glattauer also einen neuen Roman, der (leider) keine Liebesgeschichte ist. Das wusste ich ja vorher und wollte das Buch trotzdem lesen. Denn ob nun Liebesgeschichte oder nicht. Daniel Glattauer kann schreiben. Das beweist er auch wieder in “Die spürst du nicht”. Zu Beginn der Lektüre war ich allerdings anderer Meinung. Die ironisch distanzierte Erzählstimme hat mich ziemlich irritiert. Geschildert wird zum Einstieg wie zwei Familien im Urlaub in der Toskana verweilen: die Grünen-Politikerin Elisa mit ihrem Uni-Prof Ehemann Oscar und ihren Töchtern: das Kleinkind Lotta und die Teenie-Tochter Sophie-Luise, die ihre Mitschülerin Aayana – Tochter einer somalischen Flüchtlingsfamilie – mit in den Urlaub genommen hat. Außerdem sind da noch Elisas Jugendfreundin Melanie und ihr Star-Winzer-Ehemann Engelbert sowie deren Sohn Benjamin. Alles wirkt von Beginn an sehr überspitzt: die Erwachsenen, die Wein trinkend auf der Terrasse sitzen, die kleinen Kinder, die sich streiten und die größeren Kinder, die auf der Jagd nach dem schönsten Sonnenuntergangs-Selfie sind. Mehr Klischee geht nicht. Und so legte ich das Buch erst einmal wieder für ein paar Tage zur Seite.
Letztlich überwog aber doch die Neugier und das Vertrauen in Daniel Glattauers Können, so dass ich es wieder zur Hand nahm und weiterlas. Spätestens seit der im Klappentext beschriebenen Katastrophe, die bereits auf Seite 35 des Buches passiert, war ich drin im Geschehen. Nicht etwa, weil das Ereignis mich emotional so mitnahm. Der Erzählton ändert sich zwar, die Ironie verschwindet zeitweise, aber es bleibt bei einer distanzierten Schilderung der Ereignisse. Ich wollten nun aber doch wissen, wie sich das Geschehene auf die Beteiligten auswirkt. Das ist letztlich auch der Kern von “Die spürst du nicht”. Es ist schwierig, diesen konkret zu beschreiben, ohne zu spoilern. Es geht um moralische Fragen, Verantwortung und Schuld, um Vorurteile und Scheinheiligkeit. Dank der lebendigen Dialoge, die ich schon in “Gut gegen Nordwind” so geliebt habe, ist das alles keine schwere Kost, sondern eine unterhaltsame. Glattauer zieht trotz der ironischen Erzählweise nichts ins Lächerliche, sondern verpackt lediglich ein sehr ernstes Thema auf eine Art und Weise, die viele Leserinnen und Leser ansprechen dürfte.
Sehr gelungen finde ich wie sich der Erzählton im Laufe der Geschichte ändert. Anfangs überspitzt ironisch wird er ab der Katastrophe ernsthafter und überlässt es vor allen den lebendigen Dialogen, ihre Wirkung auf den Leser zu entfalten. Interessant ist auch, dass Glattauer auch Beiträge aus Sozialen Medien und Zeitungsartikel in die Handlung einfügt, die nicht nur für Abwechslung, sondern auch für Authentizität sorgen. Gerade die fingierten ausufernden Meinungsäußerungen in den Sozialen Medien unterstreichen die Brisanz des Themas exzellent. Außerdem lässt Glattauer den Leser durch regelmäßige Wechsel der Erzählperspektive in die Gedanken und Gefühle der Beteiligten eintauchen.
Mein Fazit:
In “Die spürst du nicht” rückt Glattauer die Menschen in den Fokus, die sonst keine Stimme haben und stellt die vermeintlichen Gutmenschen an den Pranger. Der Plot ist brillant konstruiert und so unterhaltsam, dass man erst nach dem Beenden der Lektüre dazu kommt, innezuhalten und über das Gelesene nachzudenken. Das ging mir bereits bei seinem Debütroman “Gut gegen Nordwind” so. Und auch wenn “Die spürst du nicht” thematisch ganz weit weg ist von Glattauers Erstlingswerk ist es trotz einiger Romane dazwischen das erste Buch des Autors seit DEM BESTEN BUCH ALLER ZEITEN, bei dem ich behaupten würde: Das musst du lesen!