|Rezension| Den Mund voll ungesagter Dinge – Anne Freytag
Sprachlich ein Genuss, aber die Story…
„Ich fürchte mich davor, dass alles wieder wird, wie es war. Dass am kommenden Sonntagabend die Nadel der Realität unsere Seifenblase zum Platzen bringen wird, und alles, was von uns übrig bleibt, ist eine Erinnerung die sich plötzlich wie eine Lüge anfühlt.” (S.320)
Worum geht´s?
Wenn Sophie es sich aussuchen könnte, wäre ihr Leben simpel. Aber das ist es nicht. Und das war es auch nie. Das fängt damit an, dass ihre Mutter sie direkt nach der Geburt im Stich gelassen hat. Und endet damit, dass Sophies Vater plötzlich beschließt, mit seiner Tochter zu seiner Freundin nach München zu ziehen. Alle sind glücklich. Bis auf Sophie.
Was hat es bloß mit dieser verdammten Liebe auf sich? Sophie selbst war noch nie verliebt. Klar gab es Jungs, einsam ist sie trotzdem. Bis sie in der neuen Stadt auf Alex trifft. Das Nachbarsmädchen mit der kleinen Lücke zwischen den Zähnen, den grünen Augen und dem ansteckenden Lachen. Zum ersten Mal lässt sich Sophie voll und ganz auf einen anderen Menschen ein. Und plötzlich ist das Leben neu und aufregend. Bis ein Kuss alles verändert.
Cover und Titel
Mein Eindruck
Bisher habe ich ausnahmslos alle Bücher von Anne Freytag bzw. Ally Taylor gelesen und war von jedem begeistert. Ihr Schreibstil ist einfach umwerfend und egal in welchem Genre sie sich gerade bewegt, weiß sie durch Ihre Schreibe, die sich vor allem durch eine unheimlich schöne bildliche Sprache und authentische Emotionen abhebt, zu überzeugen. Was ich außerdem an den Büchern der Autorin sehr schätze, ist ihr Musikgeschmack, der extrem gut mit meinem kompatibel ist. In “Den Mund voll ungesagter Dinge” gibt es eine Setlist am Ende des Romans mit allen Titeln, die während der Geschichte vorkommen und diese ist nicht nur unheimlich hilfreich, sondern auch ein vielfältiger Genuss für die Ohren, der eine schöne Ergänzung zur Geschichte darstellt.
Auch in ihrem neuestem Roman schreibt die Autorin in ihrem gewohnt lockerem Stil, der nie platt ist und mich vor allem durch die schönen sprachlichen Vergleiche immer wieder den Stift für Markierungen ansetzen lässt. Erzählt wird die Geschichte von Sophie, die plötzlich Gefühle für das Nachbarsmädchen Alex entwickelt, die sie selbst nicht einordnen kann.
Erstmal habe ich allerdings bis zuletzt keinen Zugang zu Freytags Protagonistin gefunden. Witzigerweise wird ihr schwieriger Charakter direkt im Roman thematisiert, indem Sophie behauptet, dass sie von den Lesern wohl nicht gemocht werden würde, wenn sie eine Romanfigur wäre. Nun, was soll ich sagen? Sie trifft den Nagel auf den Kopf. Mal verhält sich sich so trotzig und unreif wie eine 5-Jährige (vor allem in Bezug auf die neue Freundin ihres Vaters) und mal hat sie die Abgebrühtheit einer 30-Jährigen (ihre Einstellung zu Sex). Auch wenn Teenager sich bekanntlich oft ambivalent verhalten – das war mir zu extrem. Ihre Gefühle für Alex werden größtenteils nur auf die sexuelle Anziehung reduziert. Was Alex aber abgesehen davon, dass sie ein Mädchen ist und (augenscheinlich) immer gute Laune hat, so besonders für Sophie macht? Keine Ahnung! Das allein ist aber kein Grund, diesen Roman nicht zu mögen, denn meines Erachtens muss man nicht jede Figur lieben. Wichtig ist mir nur, dass ich nachvollziehen kann, warum sie so fühlt und handelt und hier liegt der casus knacksus: Ich konnte es nicht. In meinen Augen ist Sophies Charakter zu überzeichnet und deshalb leider nicht authentisch.
Hinzu kommen ein paar Details, die auch schon von anderen Rezensenten kritisch angesprochen wurden: Die Tatsache, dass ihr bester Freund sie “Flittchen” nennt, fand ich – obwohl ich selbst gewiss nicht prüde bin und mit Schimpfwörtern nicht hinter dem Berg halte – weder witzig. noch nachvollziehbar. Und der wichtigste Kritikpunkt: die Message des Romans für Jungen und Mädchen in der gleichen Situation wie Sophie. Diese lautet nämlich: “Du stehst auf jemanden deines Geschlechts? Es ist okay, dass du deshalb anders bist. Denn das ist nur eine Phase und die geht bestimmt vorbei.” Und das ist in meinen Augen für ein Jugendbuch wirklich fatal! Denn es gibt sicher Mädchen, bei denen es nur eine Phase ist, die zum Erwachsenwerden dazugehört, aber es gibt – und das ist doch sicher der größere Teil – Mädchen, bei denen es ganz bestimmt keine Phase ist. Und diese werden durch das Buch verunsichert und in meinen Augen sogar ermutigt, ihre Gefühle vor ihrer Umwelt geheimzuhalten. Ich bin ganz sicher, dass das nicht die Intention der Autorin war, aber leider ist es das, was ich dieser Geschichte entnehme. Vielleicht bin ich diesbezüglich auch zu ängstlich, aber ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass ein Mädchen (oder Junge) in Sophies Situation sich durch diesen Roman ermutigt fühlt, zu seinen Gefühlen zu stehen.
Mein Fazit:
Ich liebe es wie Anne Freytag schreibt. Unzweifelhaft ist sie eine der talentiertesten deutschsprachigen Autorinnen, die auch noch mehrere Genres bedient. Allein deshalb wäre es nicht fair “Den Mund voll ungesagter Dinge” als schlechten Roman hinzustellen. Es ist kein schlechter Roman. Aber es ist ein Roman mit einer grenzwertigen Protagonistin und einer zweifelhaften Botschaft, der deshalb vor allem von verunsicherten Jungen und Mädchen mit Vorsicht gelesen werden sollte. Als Ratgeber, wenn man in einer ähnlichen Situation steckt, ist er meines Erachtens nicht geeignet, als lockere Unterhaltungslektüre, in die man nicht viel hineininterpretiert durch anregende erotische Szenen und gute Dialoge aber allemal.