|Rezension| Die Kunst des Verschwindens – Melanie Raabe

von | Dez 6, 2022 | 0 Kommentare

Über Seelenverwandtschaft und Alltagsmagie 

Verlag: btb
Gebundene Ausgabe: 22,00 Euro
Ebook: 17,99 Euro
Erscheinungsdatum: 13.10.2022
Seiten: 400

„Wir jagen sie noch heute, diese Nacht, und das ist gut, denn wir hatten nie eine, die perfekt war, aber wir hatten viele, viele großartige Nächte, von denen bei jeder einzelnen irgendeine Kleinigkeit nicht stimmte; vielleicht, weil Alba mit jemandem Streit anfing, vielleicht, weil irgendwer sein Handy oder sein Portemonnaie verlor, vielleicht, weil ein Ex von Björn auftauchte, was immer in Tränen endete, oder weil irgendwer von uns irgendetwas nicht vertrug und irgendwann kotzend über der Toilette hing; und das war alles so viel besser als perfekt.” (S. 226 f.)

Inhalt

Gibt es das, eine Seelenverwandtschaft zwischen bislang Unbekannten? Ist es manchmal leichter, mit einer Fremden zu sprechen als mit den Menschen, die man schon lange kennt und liebt? Als die junge Fotografin Nico zufällig zwischen den Jahren der Schauspielerin Ellen Kirsch auf den nächtlichen, winterlichen Straßen Berlins begegnet, fühlt sie fast unmittelbar eine unheimliche Nähe, die sie sich nicht erklären kann. Was haben sie schon gemeinsam, der inzwischen weltberühmte Hollywoodstar und die noch um Anerkennung ringende Fotografin? Was sieht Ellen in ihr, was sie selbst nicht erkennen kann? Vor allem aber: Warum schert sich Nico darum, dass Ellen eines Tages einfach wieder aus ihrem Leben verschwindet? Und zwar so plötzlich, wie sie gekommen ist? Als Nico endlich begreift, warum sie nicht loslassen kann, macht sie sich auf die Suche – nicht nur nach Ellen, sondern auch nach ihrer Mutter und ihrer eigenen Geschichte.

Mein Eindruck

“Gibt es das, eine Seelenverwandtschaft zwischen bislang Unbekannten?” – diese Frage steht in pinken Buchstaben auf der Innenseite des Buchdeckels von “Die Kunst des Verschwindens” und sie war dafür verantwortlich, dass ich den neuen Roman von Melanie Raabe lesen wollte. Denn meine Antwort auf die Frage lautet eindeutig “Ja, ich glaube, die gibt es.”. Ich glaube an die Verbindung zwischen zwei Personen, die sich durch eine nicht erklärbare Wesensähnlichkeit tief verbunden fühlen und ich glaube, dass es diese Verbindung sowohl als Liebe als auch als Freundschaft geben kann. Aber es ist nicht nur, weil ich das Thema “Seelenverwandtschaft” an sich spannend finde. Es ist auch die Tatsache, dass eine Thriller-Autorin mit diesen Worten in ihren Roman einführt, die mich neugierig auf dieses Buch machten.
 
Normalerweise schreibt Melanie Raabe Thriller oder Sachbücher. Was aber ist “Die Kunst des Verschwindens”? Es ist weder das eine noch das andere. Es lässt sich schwer kategorisieren und vielleicht macht gerade die Tatsache, dass es sich in keine Schublade stecken lässt, seinen Reiz aus. Überhaupt ist vieles an dieser Geschichte einzigartig: Angefangen beim wunderschönen kunstvollen Cover mit den zwei weiblichen Silhouetten über die Auswahl der Protagonistinnen bis hin zum Einstieg in den Plot, der in der besonderen Zeit “zwischen den Jahren” beginnt.
Nachdem ich den Klappentext las, rätselte ich mit einer Kollegin, was wohl das Hauptthema dieses Romans sein wird: Eine lesbische Beziehung? Eine verloren gegangene Schwester? Aber Melanie Raabe wäre nicht Melanie Raabe, wenn sie es sich und uns Leser:innen so einfach machen würde. Dass man erst einmal 300 Seiten lesen muss bis man eine ungefähre Ahnung hat wie sich der Plot auflösen wird, zeigt, wie genial die Autorin Spannungsbögen aufbauen kann. Aber “Die Kunst des Verschwindens” ist nicht nur spannend, sondern auch sprachlich sehr ansprechend. Immer wieder bin ich auf originelle Formulierungen gestoßen, die wunderschöne Worte für Situationen umfassten, die jede:r kennt – bestes Beispiel dafür ist die beschriebene Szene auf dem Klappentext des Romans. 
 
Es ist schwer, auf den Inhalt des Buches einzugehen, ohne zu viel zu verraten. Vielleicht hat sich Melanie Raabe bei ihrer Lesung zum Buch in Jena vor allem auf die “magischen Szenen” der Geschichte konzentriert, die nicht so viel von der Rahmenhandlung verraten. Magische Szenen? Wen das jetzt abschreckt, den möchte ich beruhigen – es geht hier nicht um Zauberei oder Fabelwesen, sondern um Alltagsmagie, also Momente, in denen etwas scheinbar Magisches passiert. Aber “Die Kunst des Verschwindens” handelt nicht nur von Alltagsmagie, sondern auch von Freundschaft,  Krankheit, Trauer, Selbstfindung und eben von der Kunst des Verschwindens. Es ist ein Buch, das man spätestens nach  ersten gelesenen Hälfte nicht mehr weglegen kann, weil man unbedingt wissen will wie sich der Plot auflöst. Die Auflösung war für meinen Geschmack zu weit hergeholt. Ich möchte nicht spoilern, deshalb nur so viel: Ich hätte mir ein Ende gewünscht, das nicht ganz so “glatt” ist, dann wäre der Plot für mich runder gewesen.
Mein Fazit:

Wer einen Roman sucht, der anders ist als die anderen und den man schwer aus der Hand legen kann, ist mit Melanie Raabes “Die Kunst des Verschwindens” gut beraten. Auch wenn es sich dabei um keinen Thriller handelt, merkt man der Geschichte an, dass die Autorin bisher meistens Thriller veröffentlicht hat, denn es gelingt ihr, den Nervenkitzel, der für Thriller so typisch ist, über die gesamte Länge des Romans zu erzeugen. Auch wenn das Ende mich nicht vollends überzeugt hat, habe ich es zu keinem Zeitpunkt bereut, dieses Buch gelesen zu haben.

 
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