|Rezension| Die Wahrheit und andere Erinnerungen – Imbi Neeme
Dieser Roman sollte ein Bestseller sein!
„Es ist, als wärst du die ganzen Jahre ziellos übers Meer getrieben und trotzdem rein zufällig genau im richtigen Hafen gelandet. Im Gegensatz dazu habe ich das Gefühl, die ganze Zeit wie wild zu rudern und trotzdem nirgendwo richtig zu landen. Zumindest nicht an einem so wunderbaren Ort wie du.“ (S.323)
Inhalt
In einem sind sich alle sicher: Der Autounfall im Sommer 1982 war ein Wendepunkt. Damals kam Tina mit ihren beiden kleinen Töchtern Sam und Nicky plötzlich von der Straße ab. Der Wagen überschlug sich, aber niemand wurde ernstlich verletzt. Vater Craig gab Tina die Schuld, die oft zu viel trank. Nach diesem Ereignis blieb Sam beim Vater, Nicky zog zur Mutter. Als erwachsene Frauen leben Nicky und Samantha ganz unterschiedliche Leben. Aber zwischen Partnerschaft und Karriere, Mutterschaft und Kinderlosigkeit lässt sie die Erinnerung an damals nicht los. Was ist wirklich geschehen? Um das herauszufinden und nicht dieselben Fehler wie ihre Eltern zu begehen, müssen die Schwestern das schier Unmögliche tun: das Ungesagte aussprechen, die eigene Geschichte neu zusammensetzen.
Mein Eindruck
Als ich diesen Roman fertig gelesen hatte, suchte ich bei dem Versandhändler, bei dem man (ich) nur Rezensionen liest, aber keine Bücher kauft, nach der Bewertung dieses Buches und konnte es nicht glauben. „Die Wahrheit und andere Erinnerungen“ hat gerade mal acht Rezensionen. Acht! Nach über einem Jahr. Diese 8 Stimmen sind zwar immerhin auch der Meinung, dass es sich um einen sehr guten Roman handelt, aber alles andere hätte mich noch mehr gewundert.
Ich habe schon lange keine Geschichte mehr gelesen, die mich so sehr gefesselt und in ihren Bann gezogen hat. Erzählt wird die Geschichte zweier Schwestern- immer aus wechselnder Perspektive und mit Rückblenden in unterschiedliche Jahre. Teilweise wird das gleiche Ereignis aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt, was mich sehr an eine meiner Lieblingsserien “The Affair” erinnerte. So bekommt der Leser Stück für Stück immer ein Puzzleteil mehr geliefert, das er versucht an ein anderes anzulegen, feststellen muss, dass es irgendwie nicht richtig passt, auch wenn es erst den Anschein hat und erst am Ende, wenn er alle Puzzleteile besitzt, die einzelnen Teile richtig zusammensetzen kann.
Wie Imbi Neeme diesen Roman dramaturgisch konstruiert hat, ist herausragend. Viele vermeintliche Kleinigkeiten, über die man erst einmal drüber hinwegliest, stellen sich später als wichtiges Puzzleteil heraus. Ihre Figuren sind ambivalent und glücklicherweise nicht nach dem Schema „gute Schwester vs. böse Schwester“ konstruiert. Ja, beide sind sehr verschieden, aber beide haben eben auch Gründe, warum sie sind wie sie sind.
Ausgangspunkt der Geschichte ist ein Autounfall, den die Mutter der Schwestern, Tina, verursacht, als Sam und Nicky noch Kinder sind und mit im Wagen sitzen. Obwohl beim Unfall niemand ernsthaft verletzt wird, ist er für die Familie der Wendepunkt, denn danach trennen sich die Eltern von Sam und Nicky. Während Nicky trotz des Alkoholproblems ihrer Mutter zu ihr hält, wendet Sam sich emotional von ihr ab, ganz nach dem Motto “Lieber keine Mutter als so eine”. Der Roman setzt ein als Tina gerade gestorben ist und ihre erwachsenen Töchter sehr unterschiedlich mit dem Tod ihrer Mutter umgehen.
Seit langem habe ich ein Buch mal wieder gefühlt. Ich konnte die unterschiedlichen Perspektiven der Töchter einnehmen und mir von jeder die Eigenschaften zu eigen machen, die meinem Charakter nahekommen. Ich war fasziniert davon wie detailliert und lebensnah die Ambivalenz von Angehörigen einer Alkoholikerin/eines Alkoholikers in Worte fassen konnte ohne den Leser damit zu überfordern. Jeder, der bereits in solch einer Situation war, wird sich mit Sicherheit in dem ein oder anderen Gedanken der Töchter wiederfinden. Nichts wird beschönigt, vor allem nicht, welche Auswirkungen es haben kann, wenn über bestimmte Dinge innerfamiliär nicht gesprochen wird. Imbi Neeme zeigt sehr eindrucksvoll wie ein Familie durch unterschiedliche Wahrheiten, die jeder für sich definiert, zerbrechen kann, wenn niemand seine Wahrheit auf den Tisch packt.
Der Originaltitel dieses Romans ist “The Spill”, “Die Verschüttung”. Normalerweise bin ich kein Fan davon, wenn die deutsche Übersetzung wesentlich vom Originaltitel abweicht, aber in diesem Fall ist “Die Wahrheit und andere Erinnerungen” ein brillanter Titel für dieses Buch, der den Kern der Geschichte perfekt trifft.
Mein Fazit:
Ich habe es mir zur Mission gemacht, jedem Menschen, der es wissen will oder auch nicht, davon zu erzählen, wie gut dieses Buch ist. Wenn du also bis hierhin gelesen hast, tu mir einen Gefallen und lies dieses Buch! Und wenn es dir nur halb so gut gefällt wie mir, erzähle es jedem und empfehle es weiter. Ich finde, “Die Wahrheit und andere Erinnerungen” hat viel, viel mehr Aufmerksamkeit verdient. Lest dieses Buch!