|Rezension| Leinsee – Anne Reinecke
Ein Künstlerroman, der vielmehr eine Liebesgeschichte ist
„Es lief gut, hätte man sagen können. Nur dass es nicht gut lief. Die Arbeiten, die Karl wie am Fließband fabrizierte, waren, wenn man genauer hinsah, langweilige, beliebige Scheiße. Er wiederholte einfach das immer gleiche Programm. Aber niemand sah genauer hin. (…) Alle waren begeistert, alle freuten sich, und das machte es nicht besser.“ (S.242)
Worum geht´s?
Karl ist noch nicht einmal 30 und hat sich schon als Künstler in Berlin einen Namen gemacht. Er ist der Sohn von August und Ada Stiegenhauer, ›dem‹ Glamourpaar der deutschen Kunstszene. Doch in der symbiotischen Beziehung seiner Eltern war kein Platz für ein Kind. Nun ist der Vater tot, die Mutter schwer erkrankt. Karls Kosmos beginnt zu schwanken und steht plötzlich still. Die einzige Konstante ist ausgerechnet das kleine Mädchen Tanja, das ihn mit kindlicher Unbekümmertheit zurück ins Leben lockt. Und es beginnt ein Roman, wild wie ein Gewitter, zart wie ein Hauch.
Quelle: http://www.diogenes.ch/leser/titel/anne-reinecke/leinsee-9783257070149.html
Mein Eindruck
“Leinsee” und ich hatten einen schwierigen Start. Als ich Monate vor dem Erscheinen des Romans die Diogenes-Vorschau durchblätterte, bin ich scheinbar an dem Roman hängen geblieben und habe ihn mir vormerken lassen. Als er dann später eintraf und ich nochmal den Klappentext las, dachte ich “Was zur Hölle habe ich denn da bestellt? Einen Künstlerroman? Das ist doch gar nicht meins.” und habe das Buch deshalb die nächsten Wochen erst einmal vernachlässigt. Dann kam die Leipziger Buchmesse und mit ihr das Diogenes Bloggertreffen bei dem Anne Reinecke der Überraschungsgast war. Sie las die ersten Seiten ihres Romans und beantworte Fragen zum Buch und zu ihrer Person. Plötzlich war ich dann ganz angefixt vom Roman. Der Einstieg klang vielversprechend und Anne Reineckes Aussage, dass es sich bei “Leinsee” vielmehr um eine Liebesgeschichte als um einen Künstlerroman handelt, hat mich nur noch mehr davon überzeugt, mir dieses Buch endlich vorzunehmen.
Den Protagonisten Karl hatte ich nicht nur aufgrund seines Namens sofort ins Herz geschlossen, weil man ihn in keine Schublade stecken kann. Er ist nicht der typische Künstler oder der typische Großstadt-Hipster, kein Verlierertyp und auch kein Gewinnertyp. Er ist ein Mann mit Ecken und Kanten, einen den man gern in den Arm nehmen und gleichzeitig voller Bewunderung anschauen möchte. Karl erzählt von seiner schwierigen Beziehung zu seinen Eltern, von großen Enttäuschungen und verborgenen Gefühlen. Genauso vielfältig wie Karls Charakter ist auch der Rest des Romans: Es ist eine spannende Geschichte über familiäre Beziehungen, über das Leben als Künstler, über Freundschaft und natürlich auch eine große Liebesgeschichte. Der Ton wechselt dabei zwischen melancholisch und heiter, was den besonderen Reiz von “Leinsee” ausmacht. Es ist keine romantische Liebesgeschichte im klassischen Sinne, aber auch kein trübsinniges Buch über eine missratene Eltern-Kind-Beziehung, sondern eine originelle Geschichte über das Leben.
Was mir neben dem Plot besonders gut gefällt, ist die unkitschige Liebesgeschichte, die ganz ohne wilde Sexszenen oder emotionale Ausbrüche auskommt und stattdessen mittels leiser Töne nachhaltig beeindruckt. Anne Reinecke lässt dem Leser außerdem genügend Raum, sich seine Gedanken zur Geschichte zu machen. Es wird nicht alles bis ins kleinste Detail beschrieben, sondern bewusst mit Auslassungen gearbeitet, die den Plot komprimieren und durchweg spannend gestalten.
Der ruhige Erzählton, der mir grundsätzlich gut gefällt, hat allerdings den Nachteil, dass die Sprache des Buches ebenso unaufgeregt ist. Wer großen Wert auf eine schöne Sprache legt, wird hier vermutlich enttäuscht sein. Ich konnte gut damit leben, weil der tolle Plot das Fehlen besonders eindrucksvoller Sätze aufwiegt.
Mein Fazit:
Anne Reinecke debütiert mit einer sehr ungewöhnliche Geschichte, die mich aufgrund ihrer Originalität nicht nur bestens unterhalten, sondern auch sehr berührt hat. Hinter “Leinsee” verbirgt sich ein zarter und leiser Liebesroman, den man zunächst als solchen gar nicht erkennt. Frei von Kitsch und emotionalen Höhepunkten schafft es die Autorin trotzdem eine sehr eindrückliche und gefühlvolle Atmosphäre zu erzeugen, die lange nachhallt. Ich freue mich schon darauf, mehr von Anne Reinecke zu lesen.