|Rezension| Mit uns wäre es anders gewesen – Eliette Abecassis
Was für ein feines Buch über die Liebe und das Leben!
„Und so lief es: Aus Verabredungen wurden gemeinsame Mittagessen, aus Mittagessen Abendessen, aus Abendessen Partys, aus Partys Nächte, aus Nächten Jahre, aus Jahren ein gemeinsames Leben. Das Schicksal entsteht, so scheint es, aus einer Kurzschlusshandlung, einem winzigen Detail, das uns in diese oder jene Richtung abbiegen lässt. Ein Würfelwurf, der vielleicht nicht den Zufall abschafft, aber letztlich doch alles bestimmt.“ (S.45)
Inhalt
Amélie und Vincent treffen sich in jungen Jahren an der Sorbonne in Paris. Aus tiefen Blicken wird eine Nacht, in der sie an der Seine entlangspazieren. Im Morgengrauen verabreden sie sich für den nächsten Tag. Vincent kommt, Amélie nicht. Zerfressen von Unsicherheit befürchtet sie, Vincents Interesse könne nicht ernst gemeint sein. Als sie schließlich doch zum Treffpunkt eilt, ist Vincent fort. Jahre vergehen, Vincent und Amélie erleben andere Leidenschaften und andere Ernüchterungen. Sie gehen Ehen ein, bekommen Kinder und warten auf ein Familienglück, das sich nicht einstellt. Der Zufall und später das Internet führen die Wege der beiden über den Verlauf von dreißig Jahren immer wieder zusammen. Mittlerweile steht jedoch etwas viel Größeres zwischen ihnen als Unsicherheit: das Leben.
Mein Eindruck
Vorweg: Ich bin so dankbar, dass ich von jemanden, der meine Lesevorlieben sehr gut kennt (und teilt), mit den Worten “Ist das was für uns?” auf dieses schmale Büchlein aufmerksam gemacht wurde. Auch ohne den Klappentext gelesen zu haben, war nach dem ersten Blick auf das Cover, den Titel und den französischen Namen der Autorin klar, dass ich das Buch lesen muss.
Der Plot erinnert ein wenig an “Before sunrise”: Zwei junge Menschen begegnen sich zufällig, verbringen einen wunderschönen Abend miteinander, verabreden sich für den nächsten Tag miteinander, aber sie erscheint nicht rechtzeitig zur Verabredung. Was folgt sind 30 Jahre, in denen sie sich wenige Male wiedersehen – immer ist die Anziehung des ersten Abends wieder spürbar, doch das Leben steht ihnen im Weg.
Auf gerade einmal 144 Seiten erzählt Eliette Abecassis die dreißig Jahre andauernde Geschichte von Amélie und Vincent, deren Leben von verpassten Gelegenheiten gekennzeichnet ist, die auf der Suche nach dem Glück in einer Sekunde Entscheidungen treffen, die sich auf ihr gesamtes weiteres Leben auswirken. Dabei bietet sie dem Leser ein universelles Bild auf die Komplexität von Beziehungen, auf die verschiedenen Arten von Liebe und macht deutlich, dass der größte Feind der Liebe das Leben ist. Wäre ihr Leben anders verlaufen, wenn sie nicht so schüchtern gewesen wären? Wären sie dann ein Paar geworden, hätten geheiratet, zusammen Kinder bekommen und 30 Jahre später glücklich im Kreise ihrer Familie ihre Perlenhochzeit gefeiert?
Éliette Abécassis’ erzählt in “Mit uns wäre es anders gewesen” mit großer Empathie von ihren Figuren. Dabei ist ihr Schreibstil auf das Wesentliche reduziert – sonst könnte sie wohl kaum zwei Lebensgeschichten über einen Zeitraum von 30 Jahren in 144 Seiten packen. Aber es sind nicht nur die Empathie und Komprimiertheit, die ihren Schreibstil kennzeichnen. Es sind auch die zahlreichen poetischen, leicht melancholischen Aussagen, die nach lange nachwirken und so schön und wahr sind, dass sie zum Verweilen und Nachdenken einladen.
Dies ist kein sentimentales Buch über verpasste Gelegenheiten. Vielmehr regt es den Leser bzw. die Leserin dazu an, über die Vergangenheit zu sinnieren, über Richtungen, die eingeschlagen und Entscheidungen, die getroffen wurden. Wie viel des eigenes Glücks hat man selbst in der Hand? Wie viel wird durch den Flügelschlag eines Schmetterlings fremdbestimmt?
Mein Fazit:
Es gab in den letzten Monaten wenige Bücher, mit denen ich mein Umfeld genervt habe. “Mit uns wäre es anders gewesen” ist endlich wieder einer dieser Romane, der mich so berührt hat und der viel mehr Aufmerksamkeit verdient, so dass ich ihn bei jeder sich bietenden Gelegenheit all jenen empfehle, die – wie ich – beim Lesen auch gern mal ein bisschen leiden. Ich liebe dieses feine Buch und freue mich auf weitere Bücher von Éliette Abècassis.