|Rezension| Wir müssen über Kevin reden – Lionel Shriver

von | Jun 9, 2017 | 2 Kommentare

Kein schöner Roman, aber ein beeindruckend guter!

Verlag: Piper
Originaltitel: We need to talk about Kevin
Übersetzung: Christine Frick-Gerke
Taschenbuch: 11,00 Euro
Ebook: 10,99 Euro
Erscheinungsdatum: 02.05.2017
Seiten: 560

„In meinen Augen sollte eine Elternschaft unser Verhalten beeinflussen, in deinen Augen sollte sie unser Verhalten diktieren. So geringfügig der Unterschied scheint, für mich ist er wie Tag und Nacht.“ (S.78)

Worum geht´s?

Kurz vor seinem sechzehnten Geburtstag richtet Kevin in der Schule ein Blutbad an. Innerhalb weniger Stunden ist das Leben seiner Familie nicht mehr, wie es war. – Lionel Shriver erzählt aus der Sicht einer Mutter, die sich auf schmerzhafte und ehrliche Weise mit Schuld und Verantwortung, mit Liebe und Verlust auseinandersetzt. Hätte sie ihr Kind mehr lieben sollen? Hätte sie das Unglück verhindern können?

Cover und Titel

Als “Wir müssen über Kevin reden” vor einigen Jahren als Hardcover erschienen ist, habe ich es oft in der Buchhandlung liegen sehen und aufgrund des Titels vollkommen ignoriert. Aufgrund des mittlerweile stark stigmatisierten Namens “Kevin” dachte ich, es ginge in diesem Roman um Erziehungsprobleme, um ein Kind, das sich “kevinmäßig” verhält. Im weitesten Sinne stimmt das sogar, aber eigentlich trifft es den Kern der Geschichte überhaupt nicht. Hätte mir nicht eine liebe Bloggerin (Danke, Petzi!) diesen Roman empfohlen als er nun neu als Taschenbuch erschien, würde ich ihn aufgrund meiner Vorurteile allein aufgrund des Titels – der übrigens eine 1:1 Übersetzung des amerikanischen Originals ist – wohl immer noch ignorieren.
Das Cover sticht durch seine gelbe Farbgebung gleich ins Auge, das gewählte Motiv verrät aber nichts über die Handlung.

 

Mein Eindruck

Ich kann mich gar nicht daran erinnern wann ich zuletzt ein Roman dieses Ausmaßes (immerhin fast 600 Seiten) in so kurzer Zeit konsumiert habe. Obwohl ich am Anfang meine Schwierigkeiten mit der Geschichte hatte, weil sie ganz offensichtlich in eine andere als von mir vermutete Richtung verlief, war ich spätestens nach einem Drittel gefangen von der düsteren Familiengeschichte der Katchadourians.

In Briefen an ihren Ehemann Franklin erzählt Eva die Geschichte beider – vom ersten Kennenlernen bis zum schrecklichsten Ereignis ihres Lebens: dem Amoklauf ihres Sohnes Kevin in dessen Schule. Dabei schwankt sie immer wieder zwischen Vergangenheit und Gegenwart, wodurch man als Leser nach und nach ein sehr komplexes Bild der Charaktere und Familienverhältnisse bekommt.

Lionel Shriver schreibt sehr dicht und derart authentisch, dass man beim Lesen oft denkt, sie dokumentiere eine wahre Geschichte. Das Hauptaugenmerk legt sie dabei nicht auf den Amoklauf an sich, der erst auf den letzten Seiten des Buches im Detail thematisiert wird, sondern auf die familiären Strukturen, wie sie entstanden sind, sich verändert haben und immer wieder ins Wanken geraten. Zentraler Punkt ist dabei der Titelgeber des Romans: Evas und Franklins Sohn Kevin. Kevin als schwieriges Kind zu bezeichnen, wäre wohl untertrieben. Ein schwieriges Kind ist wohl jemand wie Kevin aus “Kevin allein Zuhause”, aber der Kevin dieser Geschichte macht seinen Eltern, bzw. vor allem seiner Mutter, das Leben zur Hölle und straft sie ab dem Moment seiner Geburt mit unverhohlener Abneigung. In Evas Briefen an ihren Mann lässt sie ihre Geschichte Revue passieren und sucht Gründe und Schuld für das Geschehene. Muss sie die Verantwortung für Kevins Tat übernehmen, weil sie nur Franklin zuliebe schwanger geworden ist und eigentlich gar kein Kind wollte? Natürlich will sie auch der Frage auf den Grund gehen, die sie immer und immer zu hören bekommt und auf die sie selbst keine Antwort weiß: Warum? Warum tötet dein 16-jähriger Sohn seine Mitschüler und Lehrer? Hätte man die Tat nicht als Eltern verhindern können?

Die Auseinandersetzung der Protagonistin mit sich und ihren Mitmenschen geht aufgrund Shrivers feinfühligen und ehrlichen Schreibstils unglaublich unter die Haut. Ich kann nicht behaupten, dass ich diesen Roman gern gelesen habe, obwohl er so unglaublich gut geschrieben ist. Dafür ist die Thematik einfach zu schwer: Es ist quasi unmöglich, das Gelesene einfach als Unterhaltungsliteratur zu schlucken und zur Tagesordnung überzugehen. Der Grund dafür ist die unglaublich differenzierte Auseinandersetzung der Autorin mit ihren Protagonisten. Hier gibt es kein schwarz oder weiß, kein “Der ist gut, der ist böse.” Auch wenn man zu Beginn denkt “Was ist das für eine Mutter, die ihr Kind ablehnt?” und ihr damit automatisch eine Teilschuld zuweist, wird schnell klar: Wären die Dinge so klar, würde die Autorin wohl kaum 600 Seiten darüber schreiben.Abgerundet wird der Roman durch ein dramatisches Finale, das in Teilen vorhersehbar ist, aber eben nicht im Ganzen und den Leser atemlos und zutiefst erschüttert zurücklässt.

 

Mein Fazit:

„Wir müssen über Kevin reden“ ist keine schöne Lektüre, aber ein durchaus wichtige und lesenswerte. Lionel Shrivers Auseinandersetzung mit der „Amoklauf“-Thematik ist beeindruckend vielfältig und feinfühlig, wodurch diesem Roman eine beängstigende Tiefe verliehen wird, die noch lange im Leser nachhallt. Definitiv ist das ein Buch, das man nicht mehr vergisst, wenn man es einmal gelesen hat.

 

Vielen Dank an den Piper Verlag für dieses Rezensionsexemplar.
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