|Rezension| 22 Bahnen – Caroline Wahl

von | Jun 27, 2023 | 0 Kommentare

Ein sehr beeindruckendes Debüt! 

Verlag: Dumont
Gebundene Ausgabe: 22,00 Euro
Ebook: 17,99 Euro
Erscheinungsdatum: 18.04.2023
Seiten: 209

„Die Gewissheit, dass ich vieles verlieren kann, einen Vater, eine Mutter, eine normale Kindheit, dass nichts sicher und beständig ist, dass aber Bücher trotz allem bleiben, dass mir niemand diese Geschichten, diese Welten wegnehmen kann, in die ich zu flüchten vermag, beruhigte mich und machte mich unverwundbar. Ich wusste: Egal, wie viel Scheiße da noch auf mich zukommt, dieses bisschen Glück kann mir niemand nehmen.“ (S.105)

Inhalt

Tildas Tage sind strikt durchgetaktet: studieren, an der Supermarktkasse sitzen, sich um ihre kleine Schwester Ida kümmern – und an schlechten Tagen auch um die Mutter. Zu dritt wohnen sie im traurigsten Haus der Fröhlichstraße in einer Kleinstadt, die Tilda hasst. Ihre Freunde sind längst weg, leben in Amsterdam oder Berlin, nur Tilda ist geblieben. Denn irgendjemand muss für Ida da sein, Geld verdienen, die Verantwortung tragen. Nennenswerte Väter gibt es keine, die Mutter ist alkoholabhängig. Eines Tages aber geraten die Dinge in Bewegung: Tilda bekommt eine Promotion in Berlin in Aussicht gestellt, und es blitzt eine Zukunft auf, die Freiheit verspricht. Und Viktor taucht auf, der große Bruder von Ivan, mit dem Tilda früher befreundet war. Viktor, der – genau wie sie – immer 22 Bahnen schwimmt. Doch als Tilda schon beinahe glaubt, es könnte alles gut werden, gerät die Situation zu Hause vollends außer Kontrolle.

Mein Eindruck

Mir wird ja gern nachgesagt, ich lese immer nur Bücher, die “einen deprimieren”. Auf den ersten Blick ist “22 Bahnen” ein solches Buch, denn es dreht sich wieder – genau wie in “Die Wahrheit und andere Erinnerungen” – um zwei Schwestern mit einer Alkoholiker-Mutter. Während in Imbi Neemes Roman die Geschichte nach dem Tod der Mutter einsetzt, ist die Mutter von Tilda und Ida in Caroline Wahls Debütroman “22 Bahnen” noch am Leben. Alle Drei wohnen zusammen, der Vater hat die Familie vor einigen Jahren verlassen und nun sind die zwei Schwestern dem Leben mit einer Alkoholikerin und den damit verbundenen Herausforderungen allein ausgesetzt. Während Tilda Mathematik studiert und nebenher in einem Supermarkt jobbt, ist ihre kleine Schwester Ida noch in der Grundschule und Tilda übernimmt im Wesentlichen die Mutterrolle für sie.

Ich schwöre, bin wirklich genervt vom inflationären Gebrauch des nachfolgendes Wortes in Rezensionen, aber ich muss es nun trotzdem verwenden: was ich an diesem Roman am meisten mag, ist seine Authentizität. Ganz egal, ob es die Charaktere sind, die Szenen im Schwimmbad oder Supermarkt, die Beschreibung der Geschwisterbeziehung oder der Umgang der Schwestern mit der Alkoholsucht ihrer Mutter: ich hatte nie das Gefühl, einen Roman zu lesen, sondern war vielmehr war ein Teil der Geschichte. Dazu trägt auch Caroline Wahls Erzählton bei, der wohl am besten mit prägnant und herzerwärmend beschrieben werden kann. Und immer wieder schreibt sie Sätze, die traurig-schön sind, die mit wenigen Worten so viele Gefühle ausdrücken wie als Tilda beschreibt wie sie als Kind oft Zeit bei ihrer besten Freundin Marlene verbrachte: “Teilzuhaben an einer intakten Familie, von der man eigentlich kein Teil ist, war manchmal schmerzhaft.” (S.115) Jeder, der in einer dysfunktionalen Familie aufgewachsen ist, wird diesen Satz nachempfinden können und so ergeht es dem Leser an vielen Stellen in diesem eigentlich doch eher schmalen Roman.

Im Mittelpunkt der Geschichte steht übrigens nicht der Alltag der Mädchen mit ihrer Alkoholiker-Mutter, sondern vielmehr ihre Sehnsüchte bzw. die Hindernisse, die ihnen im Weg stehen, ihren Sehnsüchten nachzugeben: Verantwortungsbewusstsein, Angst oder traumatische Erfahrungen. Was ich zudem sehr an dieser Geschichte schätze: Trotz der Schwere der Themen gelingt es Caroline Wahl eine Leichtigkeit in den Roman zu bringen, die ihn eben nicht zu einer deprimierenden Lektüre machen. In meinen Augen ist das eine hohe Kunst, da die Balance zu wahren, die ich zuletzt bei Jasmin Schreibers “Marianengraben” bewundert habe. 

Mein Fazit:

“22 Bahnen” hat alles, was ein guter Roman braucht: Einen einzigartigen Erzählton, der einen durch die Seiten fliegen lässt, lebensechte Charaktere, viel Tiefgang und zugleich eine Leichtigkeit, die den Roman trotz der Schwere der Themen zu keiner schwermütigen Lektüre machen. Ich freue mich schon jetzt auf Caroline Wahls nächstes Buch.  

 
Vielen Dank an den Dumont Verlag für dieses Rezensionsexemplar.
 
 
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