|Rezension| 6 Uhr 41 – Jean-Philippe Blondel
Leise Töne, die überzeugen
„Schließlich gibt Geld einem ein Gefühl von Sicherheit. Gutes Aussehen auch. Ich hatte nichts von beidem. Deshalb versuchte ich, ein Schatten zu werden, eine Theatersouffleuse – jemand, dessen Gesicht man kaum kennt, der aber unersetzlich ist. Mit Sanftmut und Diskretion, so hoffte ich, würde ich es schaffen, für jemanden unersetzlich zu werden.“ (S.92)
Inhalt
Cécile hat das Wochenende bei den Eltern verbracht. Am Montagmorgen sitzt sie erschöpft im Frühzug, ist auf dem Rückweg zu Mann und Kind. Der Platz neben ihr ist frei, ein Mann setzt sich. Cécile erkennt ihn sofort: Philippe Leduc. Auch Philippe hat Cécile gleich erkannt. Doch beide schweigen sie geschockt. Jeder für sich erinnern sie sich in den eineinhalb Stunden bis Paris, wie verliebt sie vor dreißig Jahren waren. Als sie zusammen ein romantisches Wochenende in London verbringen wollten und dort alles aus den Fugen geriet. Je näher der Gare de l’Est kommt, desto größer wird die Ungewissheit: Soll er sie ansprechen? Was könnte sie – nach all den Jahren – zu ihm sagen? Was wäre, wenn ..
Mein Eindruck
“6 Uhr 41” ist ein Roman, der mich auf den ersten Blick angesprochen hat. Ein ungewöhnlicher Titel gepaart mit einem nostalgisch schönem Cover und einem französischen Autorennamen waren von vornherein drei ziemlich gute Argumente, diesen schmalen Roman zu lesen.
Die Geschichte ist schnell erzählt: Ein Mann und eine Frau, die vor mehr als 20 Jahren mal ein Paar waren, sitzen morgens zufällig im gleichen Zug nach Paris. Beide erkennen sich, lassen sich dies aber nicht anmerken. Aus wechselnder Perspektive wird die Geschichte ihrer beider Leben erzählt sowie nach und nach ihre gemeinsame Vergangenheit aufgerollt.
“6 Uhr 41” ist ein leiser Roman, der nicht nur durch sein Setting typisch französisch ist. Er spielt innerhalb von zwei Stunden, ist leicht zu lesen, trotzdem tiefgründig und vor allem durch das Ungesagte (dieses Mal kann man das sogar wörtlich nehmen) reizvoll. Denn die ganze Zeit über wartet man darauf, ob sie sich ansprechen und oder tatsächlich jeder alleine seinen Gedanken nachhängt und sie ohne miteinander zu reden auseinandergehen.
Obwohl weder Cecile noch Philippe für mich ein großes Identifikationspotenzial boten, habe ich mich ihrer Geschichte nicht entziehen können. Keiner von beiden war mir sonderlich sympathisch, dennoch konnte ich viele von Blondel beschriebene Gedanken und Gefühle nachempfinden. Cecile hat sich nach den emotionalen Verletzungen in ihrer Vergangenheit einen dicken Schutzpanzer zugelegt. Philippe, der früher everybodys darling war, ist mittlerweile ein mit sich selbst unzufriedener, mittelalter Mann, dessen optischen Vorzüge in der Vergangenheit ebendieser angehören. Beide erinnern sich an das Erlebte, beide fragen sich “Was wäre, wenn ich damals eine andere Entscheidung getroffen hätte?” Die Spannungen zwischen den Beiden während der Zugfahrt springen durch Blondels authentische Erzählweise auf den Leser über. Man möchte gern die Freundin am Handy sein, die in solch einer Situation heimlich kontaktiert wird und ihnen eine Nachricht schreiben: “Los! Nun redet schon miteinander!”
Was die Geschichte letztlich perfekt macht, ist ihr Ende. Hier hat Blondel sich glücklicherweise für einen Weg entschieden, der diesen Roman zu einem Buch macht, das man nicht mehr vergisst.
Mein Fazit:
“6 Uhr 41” war mein erster Roman von Jean-Philippe Blondel, aber mit Sicherheit nicht mein letzter. Mich hat diese Geschichte von zwei Menschen, die – jeder in seiner eigenen Gedankenwelt – über das “wäre wäre, wenn” sinnieren vor allem durch ihr originelles Setting, den angenehm, typischen französischen Erzählstil (zudem wunderbar übersetzt!) und das überraschende Ende überzeugt.