|Rezension| All das zu verlieren – Leila Slimani

von | Jun 14, 2019 | 0 Kommentare

Schockierend ehrlich und verdammt gut

Verlag: Luchterhand
Übersetzung: Amelie Thoma
Originaltitel: Dans le jardin de l’ogre
Gebundene Ausgabe: 22,00 Euro
Ebook: 17,99 Euro
Erscheinungsdatum: 13.05.2019
Seiten: 224
Weiterer Titel der Autorin: Dann schlaf auch du

„Weit weg von Paris, in einem kleinen Haus in der Provinz, würde sie dem entsagen, was sie ihrer Ansicht nach wirklich ausmacht, ihrem wahren Wesen. Das, was, eben weil niemand es kennt, ihre größte Herausforderung ist. Wenn sie diesen Teil von sich aufgibt, wird sie nur nich das sein, was alle sehen. Eine Oberfläche ohne Grund und ohne Kehrseite. Ein Körper ohne Schatten.“ (S.130)

Inhalt

Nach außen hin führt Adèle ein Leben, dem es an nichts fehlt. Sie arbeitet für eine Pariser Tageszeitung, ist unabhängig. Mit ihrem Ehemann, einem Chirurgen, und ihrem kleinen Sohn lebt sie in einem schicken Viertel, ganz in der Nähe von Montmartre. Sie reisen, sie fahren übers Wochenende ans Meer. Dennoch macht Adèle dieses Leben nicht glücklich. Gelangweilt eilt sie durch die grauen Straßen, trifft sich mit Männern, hat Sex mit Fremden. Sie weiß, dass ihr die Kontrolle entgleitet. Sie weiß, dass sie ihre Familie verlieren könnte. Trotzdem setzt sie alles aufs Spiel.

Mein Eindruck

Googelt man den Inhalt von Leila Slimanis “All das zu verlieren” stößt man interessanterweise auf ganz unterschiedliche Aussagen: Einmal geht es um eine sexsüchtige Frau, dann wieder um eine selbstbestimmte Frau, die sich nimmt, was sie braucht ohne Rücksicht auf Verluste. In der nächsten Quelle heißt es, es geht um eine Frau, die sich zu ihrem Glück zwingt und wieder andere behaupten, es ginge um Abgründe unserer Zeit. Ja was denn nun? 

“All das zu verlieren” handelt von einer verheirateten Frau und Mutter eines dreijährigen Sohnes, die aus einem inneren Drang heraus, der stärker ist als alle guten Vorsätze, immer wieder sehr rauhen Sex mit mal mehr, mal weniger fremden Männern hat. Von diesem zweiten Leben weiß ihr Mann (natürlich) nichts, sie wahrt den Schein der heilen, glücklichen und gut situierten Familie, aber es passiert das Unvermeintliche: Durch eine Leichtsinnigkeit könnte sie “all das verlieren”. Ab diesem Wendepunkt entwickelt sich die Handlung in eine für mich unvorhersehbare Richtung, was ich unglaublich gut und spannend fand. Der zweite Teil des Buches ist meines Erachtens herausragend und trotz dessen, dass eigentlich nicht viel passiert, wahnsinnig intensiv.

Wie auch schon in “Dann schlaf auch du” beschäftigt sich Leila Slimani in “All das zu verlieren” mit einem brisanten Thema, packt dieses schonungslos und völlig wertfrei an. In der von ihr gewohnten ruhigen, distanzierten Sprache bekommt der Leser einen tiefen Einblick in Adeles Innenleben. Dabei wird die gegenwärtige Erzählung immer wieder durch Rückblenden in Adeles Vergangenheit ergänzt. Die teilweise verstörenden Gedanken über ihre Ehe, ihre Mutterschaft, ihre Affären und ihre Sexsucht gefallen mit Sicherheit nicht jedem Leser; als Identifikationsfigur ist sie völlig untauglich. Trotzdem möchte ich behaupten, dass viele verheiratete/liierte Frauen/Mütter Adeles Gedanken bis zu einem gewissen Punkt nachvollziehen und gar nachfühlen können, nur „funktionieren“ sie besser als die Protagonistin in Leila Slimanis Buch. Sie sind angepasster, unterdrücken ihre (sexuellen) Wünsche, verzichten auf diese, um ihre „heile Welt“ nicht zu gefährden und ihr Umfeld nicht zu enttäuschen. Genau deshalb hat dieser Roman so eine Sprengkraft: Die Zerrissenheit einer Frau zwischen dem Verlangen nach körperlicher Nähe und dem Erhalt dessen, was sie sich mit ihrer kleinen Familie aufgebaut hat, wird hier auf eine sehr eindrucksvolle und wertfreie Weise geschildert. Neu ist eben, dass Adele dieser Zerrissenheit in die gefährliche Richtung nachgibt und versucht, ihre Bedürfnisse zu befriedigen, ohne dass es ihr eigentliches Leben berührt. Dass das früher oder später nach hinten losgeht, kann man sich denken.

Gut gefallen hat mir außerdem wie Leila Slimani mit dem Thema Sex umgeht. Obwohl Sex in diesem Buch eine wesentliche Rolle spielt, gibt es keine ausschweifenden pornografischen Schilderungen. Die Dinge werden nüchtern beim Namen genannt und entfalten trotzdem eine beeindruckende Intensität. 

Bei “Dann schlaf auch du” habe ich bemängelt, dass am Ende zu viele Fragen offen bleiben – das ist hier anders. Auch dieser Roman lebt von Auslassungen und Andeutungen. Vieles muss man sich als Leser zusammenreimen, aber das Ende ist dieses Mal wesentlich runder, auch aufgrund dessen, dass Leila Slimani am Ende einen Einblick in die Gedanken von Adeles Ehemann gewährt.  All das führt dazu, dass ich „All das zu verlieren“, bei dem es sich übrigens um Leila Slimanis ersten Roman handelt, der aber als zweiter veröffentlicht wurde, wesentlich eindrucksvoller finde als „Dann schlaf auch du“.

Mein Fazit:

Leila Slimani schreibt Geschichten, die noch Jahre nach dem Lesen im Kopf bleiben. Genau wie „Dann schlaf auch du“ ist Leila Slimanis Erstlingswerk „All das zu verlieren“ kein schöner Roman, dafür aber ein sehr eindrucksvoller. Der Autorin gelingt es in einem kühlen Ton ein intensive Geschichte über die innere Zerrissenheit einer Frau zu erzählen, die verstört, nachdenklich macht und überrascht. Ich freue mich schon jetzt auf Leila Slimanis drittes Buch. 

 
Vielen Dank an den Luchterhand Verlag und das Bloggerportal für dieses Rezensionsexemplar.
 
 
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