|Rezension| Bleib – Adeline Dieudonne
Ein etwas anderer Briefroman
„Ich habe mich oft gefragt, wie ich im Nachhinein auf die Beziehung mit M. schauen würde. Ich weiß, dass man eine Liebesgeschichte immer daran misst, wie sie zu Ende gegangen ist. Das ist bescheuert.“ (S.212)
Inhalt
Eine Frau und ihr Geliebter verbringen das Wochenende in einem Chalet in den französischen Alpen. Doch mit einem Mal ist er tot. Außer sich vor Schmerz bleibt die Erzählerin mit seinem Körper zurück. In den Tagen, die folgen, weicht sie ihm nicht von der Seite. Schläft bei ihm, spricht mit ihm, fährt mit ihm auf dem Rücksitz durch die Berge. Und sie beginnt, seiner Ehefrau zu schreiben. In den Briefen erzählt sie die Geschichte einer großen Liebe – und die Geschichte einer Frau, die lernt, selbstbestimmt zu leben.
Mein Eindruck
Adeline Dieudonnes Bücher sind keine Wohlfühllektüre. Mit “Bleib” unterstreicht sie das ein weiteres Mal. Wie lässt sich dieses Buch kategorisieren? Es ist ein Briefroman. Es ist eine Liebesgeschichte. Und eine Geschichte über den Tod. Es ist ein Roman über Trauer und gleichzeitig ein Thriller. Dieses Buch ist intensiv, zärtlich, abstoßend, humorvoll, verstörend und skurril zugleich. Und nicht nur einmal fragte ich mich “Wie kommt man auf so einen Plot?” Das mag ich sehr an den Büchern der Autorin: Sie sind unverwechselbar und immer originell.
In “Bleib” verbringt die namenlose Protagonistin ein Wochenende in den französischen Alpen mit ihrem Freund – einem verheirateten Mann. Dieser stirbt und in ihrer Verzweiflung will die Frau ihren Geliebten nicht hergeben und verbringt Tage mit dem toten Körper. Weil sie aber der Meinung ist, dass die Ehefrau des Geliebten zumindest ein Recht darauf hat, zu erfahren, was ihrem Mann zugestoßen ist, schreibt sie ihr Briefe, in denen sie nicht nur vom Tod des Mannes berichtet, sondern auch von ihrer Liebe zueinander.
Die Frage, wie realistisch das Szenario ist, dass eine Frau tagelang mit einer Leiche im Auto durch die Gegend fährt, darf man sich beim Lesen wahrscheinlich nicht stellen, aber darum geht es auch nicht. Jeder Mensch trauert anders und in “Bleib” ist es eine sehr extreme, fast schon psychotische Art des Trauerns. Trotz dessen, dass manche Szenen im Buch auch aus einem Horrorfilm stammen könnten, spürt man beim Lesen eine allgegenwärtige Zärtlichkeit. Das Trauern derart ambivalent darzustellen, ist meines Achtens eine große Kunst und auch so wichtig, denn letztlich ist Trauern einer der ambivalentesten Prozesse überhaupt.
Neben den Schilderungen des Hier und Jetzt schreibt die Erzählerin aber auch von ihrer Vergangenheit und dies auf sehr allumfassende Art und Weise. Oft geht es um ihre Sozialisation als Frau und die daraus resultierenden Probleme in Beziehungen. Immer wieder hatte sie das Bedürfnis, sich anzupassen und unterzuordnen. Die Beziehung zu M. ist die erste Beziehung, in der dies nicht so ist. Liegt das daran, dass sie im Verborgenen stattfindet? Solchen und anderen Gedanken geht sie in ihren Briefen an M.s Ehefrau nach. Diese Reflektionen tun dem Plot insofern gut als dass sie den schauerlichen Roadtrip-Part mit all seinen teils wirklich ekligen Details etwas abmildern. Auch wenn ich beim Lesen öfter angewidert das Gesicht verzogen habe, wollte ich natürlich wissen, wie der Roadtrip mit der Leiche endet und in welchem Zustand die Protagonistin am Ende ist. Den Spannungsbogen hält Adeline Dieudonne stets aufrecht und löst ihn perfekt auf.
Mein Fazit:
“Bleib” ist ein Roman, auf den man sich einlassen muss. Er ist speziell, aber gerade deshalb sehr lesenswert. Bestimmte Szenen in diesem Buch werde ich nie wieder vergessen. Man muss das aushalten können, aber es lohnt sich. Adeline Dieudonne ist eine begnadete Erzählerin – immer mit einem Hang zum Abgründigen einerseits und einer unglaublichen Zärtlichkeit für ihre Figuren andererseits. Ganz klare Leseempfehlung!