|Rezension| Bevor wir uns vergessen – Eliette Abecassis
Ein Buch für einen trüben Herbsttag
„’…Es ist ein Wunder, dass wir noch hier in diesem Zimmer sitzen und miteinander reden, findest du nicht?’ ‘Was willst du damit sagen?’ ‘Ich werde weggehen, Jules.’ ‘Ich weiß’, sagte er nach einer Weile.“ (S.72)
Inhalt
Alice und Jules sind fünfundachtzig Jahre alt. Sie treffen sich auf einer Bank im Jardin du Luxembourg, Kinder spielen vor dem Bassin, ein Sonnenstrahl bricht durch das Laub der Bäume. Ist es ein Déjà-vu? Denn das, was sie jetzt zu vergessen drohen und was vor sechzig Jahren begann, nahm hier seinen Anfang: ihr gemeinsames Leben. In ihrem neuen Roman dreht Éliette Abécassis die Zeit zurück, Schritt für Schritt erzählt sie die Geschichte von Alice und Jules vom Ende bis zum Anfang. Alter, Routine, Affären, Eifersucht, Eltern werden, Heirat, Leidenschaft: All das haben die beiden vor der Kulisse von Paris und den großen historischen Umbrüchen der letzten Jahrzehnte miteinander erlebt. Dieses hoffnungsvolle und zärtliche Buch fragt, wie Liebe bestehen kann und was uns zusammenhält.
Mein Eindruck
Ich habe bisher alle ins Deutsche übersetzten Romane von Eliette Abecassis gelesen. Ich mag, wie sie Geschichten, die nah gehen, mit wenigen Worten erzählt. Ich mag das französische Flair in ihren Büchern und dass sie sich immer um die Liebe drehen.
Mit “Bevor wir uns vergessen” lädt Abecassis die Leser auf eine Reise durch das Leben von Alice und Jules ein. Die Geschichte wird in Rückblenden erzählt, beginnend mit einem einprägsamen Bild: Die beiden 85-Jährigen sitzen auf einer Bank im Jardin du Luxembourg. Diese Anfangsszene kehrt am Ende des Buches wortgleich zurück und fordert den Leser dazu auf, das Buch erneut aufzuschlagen, um die Bedeutung dieser Szene in ihrem vollen Ausmaß zu erfassen – ein raffinierter Kniff der Autorin, der die Wirkung der Erzählung intensiviert.
Abecassis dreht die Zeit zurück und entfaltet die Liebesgeschichte von Alice und Jules in umgekehrter Chronologie. Zunächst begegnen wir den beiden im Jetzt-Zustand und erfahren erst nach und nach, was sie im Laufe ihres gemeinsamen Lebens geprägt hat. Die Beziehung der beiden entpuppt sich nicht als Bilderbuchehe, sondern – so behaupte ich provokativ – als eine durchaus durchschnittliche Ehe. Resignation, Wut, Midlife-Crisis, Affären und Sehnsüchte bestimmen das, was nach vielen Ehejahren und gemeinsam durchlebten Höhen und Tiefen vom anfänglichen Verliebtsein übrigbleibt. Dennoch haben Alice und Jules ihr gesamtes Leben miteinander geteilt.
Auf nur 174 Seiten gelingt es Eliette Abecassis, das komplexe Geflecht eines ganzen Lebens klug und fein komponiert darzustellen. Besonders beeindruckt hat mich ihr schonungsloser Erzählstil, der die Abgründe und Zwischentöne von Beziehungen seziert. In “Bevor wir uns vergessen” beweist die Autorin zudem ihr Geschick, subtile Spannungsfäden zu legen, die sich erst am Ende entwirren – etwa in Form einer mysteriösen Widmung in einem Buch oder der symbolischen Bedeutung einer besonderen Lampe, die erst im Rückblick ihre volle Tragweite entfaltet.
Am Ende bleibt der Leser mit einer zentralen Frage zurück: Kann Liebe tatsächlich über einen so langen Zeitraum hinweg Bestand haben? Waren Alice und Jules so lange ein Paar, weil sie die große Liebe füreinander empfanden? Oder war es eher die Bequemlichkeit? Oder vielleicht der Wunsch, den Konventionen gerecht zu werden?
Mein Fazit:
“Bevor wir uns vergessen” ist eine nette Herbstlektüre, die man durchaus an einem Tag lesen kann. Sie ist weder sprachlich noch inhaltlich ein “must read”, aber Paris-Liebhaber:innen und Menschen, die realistische (!) Liebesgeschichten mögen, kommen mit Eliette Abecassis neustem Werk voll auf ihre Kosten.