|Rezension| Der Hals der Giraffe – Judith Schalansky
Ein Protagonistin, die man nicht mögen kann
„Das Leben war kein Kampf, es war eine Bürde. Man musste sie tragen. So gut es eben ging. Eine Aufgabe vom ersten Atemzug an. Als Mensch war man immer im Dienst. Man starb nie an einer Krankheit, sondern an der Vergangenheit. Eine Vergangenheit, die uns nicht auf diese Gegenwart vorbereitet hatte.“ (S.199)
Inhalt
Anpassung im Leben ist alles, weiß Inge Lohmark. Schließlich unterrichtet sie seit mehr als dreißig Jahren Biologie. In einer Stadt im hinteren Vorpommern. Dass ihre Schule in vier Jahren geschlossen werden soll, ist nicht zu ändern – die Stadt schrumpft, es fehlt an Kindern. Aber noch vertreibt Inge Lohmark, Lehrerin vom alten Schlag, mit ihrem Starrsinn alles Störende. Als sie schließlich Gefühle für eine Schülerin entwickelt und ihr Weltbild ins Wanken gerät, versucht sie in immer absonderlicheren Einfällen zu retten, was nicht mehr zu retten ist.
Judith Schalanskys Bildungsroman wurde 2011 zum großen Presseund Publikumserfolg. Kritikerinnen und Kritiker bejubelten den »besten Roman des Jahres« und die Leserinnen und Leser machten ihn zum Bestseller. Schauplatz der Geschichte ist eine der irrwitzigsten Anstalten der Welt: die Schule.
Mein Eindruck
“Der Hals der Giraffe” ist wieder einer dieser Romane, den ich schon ewig auf meiner Wunschliste hatte, mir aber nicht gekauft habe, weil ich zu viel Angst vor dem Etikett “Bildungsroman” hatte. Nun bekam ich es allerdings geschenkt und war gespannt, was sich hinter dem kryptischen Titel verbirgt. Das ästhetisches Cover und das insgesamt hochwertigen Erscheinungsbild, das wohl in der Hardcover-Ausgabe noch besser zum Ausdruck kommt, waren ebenso vielversprechend wie der Klappentext, der eine skurrile Geschichte über eine außergewöhnlich angepasste Lehrerin, die Gefühle für eine Schülerin entwickelt, versprach.
Der Einstieg in den Roman gelingt Judith Schalansky hervorragend. Mit wenigen Sätzen ist man als Leser mitten drin im Leben der Biologielehrerin Inge Lohmark, die mit einem Straußenzüchter verheiratet ist und eine erwachsene Tochter hat, die in den USA lebt. Schnell wird klar: Das ist keine Protagonistin, mit der der Leser sich verbünden bzw. sympathisieren kann. Im Gegenteil: Inge Lohmark ist derart schrullig und bemitleidenswert, dass man sie eigentlich kaum erträgt. Was man hingegen sehr gut erträgt, ist die sehr präzise Sprache der Autorin, der schwarze Humor, der darin mitschwingt und die eindrucksvollen Bilder, die sie damit erschafft.
Mal abgesehen von den Längen in der Mitte der Geschichte, frage ich mich, ob der Verlag absichtlich die “Lehrerin-Schülerin-Beziehung” im Klappentext so in den Fokus rückte, um mehr potentielle Leser zu gewinnen (Verbotene Liebe zieht immer!), denn in der Realität macht die angepriesene Zuneigung der Lehrerin für ihre Schülerin ungefähr 2 Seiten im Roman aus. Da hätte ich schon etwas mehr Tiefe erwartet.
Fraglich ist für mich außerdem, warum dieser Roman den Untertitel des Bildungsromans trägt. Eigentlich ist ein Bildungsroman doch ein Roman, in dem die Hauptfigur sich auf irgendeine (gute) Art entwickelt. Inge Lohmark entwickelt sich aber kein Stück weiter. Der einzige Beteiligte, der sich hier evtl. weiterentwickelt bzw. bildet, ist der Leser, dank des Biologie-Fachwissens, das Judith Schalansky in Hülle und Fülle vermittelt. Oder bezieht sich der Titel auf die Bildungseinrichtung “Schule”? Fakt ist: Ich finde ihn irreführend.
Nachhaltig beeindruckt hat mich hingegen wie die Autorin die Nach-Wende-Zeit in Ostdeutschland in diesem schmalen Büchlein so treffsicher und unauffällig dokumentiert. Hier werden keine Klischees bedient, sondern in Nebensätzen Gegebenheiten der damaligen Zeit erwähnt, so dass – soweit ich das einschätzen kann – ein sehr realistisches Bild der Nach-Wende-Zeit gezeichnet wird.
Mein Fazit:
“Der Hals der Giraffe” ist kein Must-read, aber Judith Schalanskys Sprache ist allein schon ein gutes Argument für diesen Roman. Ein weiteres ist, dass sie sich auf sehr latente und angenehme Weise mit der Nach-Wende-Zeit in Ostdeutschland auseinandersetzt. Nicht zuletzt wurde mein Bio-Schulwissen, was nun auch schon 15 Jahre zurückliegt, erheiternd aufgefrischt – der Bildungsroman hat mich also gebildet und damit seinen Zweck erfüllt.