|Rezension| Der Sprung – Simone Lappert

von | Nov 23, 2020 | 0 Kommentare

Verlag: Diogenes
Gebundene Ausgabe: 22,00 Euro
Ebook: 18,99 Euro
Erscheinungsdatum: 28.08.2019
Seiten: 336

„Ich meine, wir sitzen hier auf einem zillionenalten Planeten, evolutioniert bis hinter die Ohren, wir trinken Cappuccino und Jägermeister, es gibt kleine ferngesteuerte Autos, in die man sich hineinsetzen kann, es gibt Fingernägel zum Ankleben und Penispumpen und Schnee und Schaukelstühle, es gibt Kanarienvögel und Drohnenkriege und künstliches Apfelaroma, und dann sind wir trotzdem der Liebe ausgeliefert und dem Wunsch, jemandes großes Glück zu sein, wir sind der Müdigkeit ausgeliefert und den Menschen, die uns zur Welt bringen (…), also wenn du mich fragst, so gesamthaft gesehen, ist das Nichtverrücktsein die eigentliche Anomalie.“ (S.268)

Inhalt

Eine junge Frau steht auf einem Dach und weigert sich herunterzukommen. Was geht in ihr vor? Will sie springen? Die Polizei riegelt das Gebäude ab, Schaulustige johlen, zücken ihre Handys. Der Freund der Frau, ihre Schwester, ein Polizist und sieben andere Menschen, die nah oder entfernt mit ihr zu tun haben, geraten aus dem Tritt. Sie fallen aus den Routinen ihres Alltags, verlieren den Halt – oder stürzen sich in eine nicht mehr für möglich gehaltene Freiheit.

Mein Eindruck

Kennt ihr das Phänomen, dass ihr ein Buch ganz unbedingt jetzt sofort lesen wollt und wenn ihr es dann endlich habt, liegt es monatelang im Bücherregal? So ging es mir mit “Der Sprung”. Obwohl mich der Klappentext sofort angesprochen hat, weil ich Romane liebe, in denen sich die Schicksale von mehreren Personen kreuzen, hat sich gleichzeitig etwas in mir gesträubt, mit dem Lesen zu beginnen. Es war die Furcht vor einer traurigen Geschichte, denn warum sollte sonst eine junge Frau am Rande einer Dachkante stehen? Aber dann hat mir jemand diese Furcht genommen (Danke, liebe Frau M.!) und ich habe den Einstieg ins Buch gewagt. Tja, was soll ich sagen? Ich habe es geliebt!

Die Geschichte erinnert zu Beginn ein wenig an “A long way down” von Nick Hornby und ist schnell zusammengefasst: Eine junge Frau (Manu) steht auf dem Dach eines Hauses und es sieht so aus als würde sie sich das Leben nehmen wollen. Statt Manu in den Fokus ihres Romans zu rücken, nimmt Simone Lappert die Menschen in den Blick, die durch dieses Ereignis unmittelbar beeinflusst werden: den Freund der jungen Frau, die Menschen, die in dem Haus wohnen, auf dem sie steht, den Polizisten, der mit dem Fall betraut wird, das Kioskbesitzer-Paar in unmittelbarer Nähe, die von den vielen Schaulustigen und deren Einkäufen profitieren usw. 

Die Kapitel sind nach den entsprechenden Personen unterteilt. Zunächst wirkt es so, als würde die Autorin wahllos Einzelschicksale erzählen, aber bald wird klar, dass es hier Zusammenhänge gibt. Ich liebe diese Plots, die nicht stringent verlaufen, sondern wo die Fäden sich immer mal wieder annähern, irgendwann kreuzen und ganz am Ende zusammenführen. Simone Lappert gelingt das meisterlich. Neben dem ausgeklügelten Plot überzeugt sie aber auch durch ihre feine Beobachtungsgabe, von der dieser Roman lebt. Ihre Charaktere sind keine Stereotypen, sondern so individuell und mit Liebe zum Detail dargestellt, dass sie einen schnell ans Herz wachsen – trotz oder vielmehr wegen ihrer Eigenheiten. Gemeinsam haben sie alle, dass sie durch negative Ereignisse in ihrer Vergangenheit zu den Menschen geworden sind, die sind in der aktuellen Situation sind. Erst nach und nach wird aufgedeckt, warum sie sich “abnormal” verhalten. Wir haben alle eine Vergangenheit, die uns in irgendeiner Weise beeinflusst. Simone Lappert zeigt eindrücklich wie unterschiedlich diese Beeinflussung sein kann und wie schwer es ist, sich davon zu lösen. “Der Sprung” ist geradezu eine Liebeserklärung an besondere Charaktere und ein indirektes Plädoyer für mehr Toleranz im Umgang mit diesen Menschen.

Auch sprachlich überzeugt dieser Roman auf ganzer Linie: Durch den Wechsel zwischen den Protagonisten wird per se schon Spannung erzeugt. Auch dass man lange nicht weiß, warum Manu auf dem Dach steht und ob sie letztlich springt, hält den Spannungsbogen aufrecht. Mit latentem Humor und ihrem liebevollen Blick auf Details schafft sie einen atmosphärische Dichte, die es unmöglich macht, sich der Geschichte zu entziehen.

Mein Fazit:

Ich bin so froh, dass ich mich hab überzeugen lassen, “Der Sprung” zu lesen, obwohl ich ein traurige Geschichte befürchtet habe. Denn dieser Roman ist nicht traurig, sondern vielmehr eine liebenswerte Hommage an die schrägen Typen dieser Welt. Simone Lappert zeigt auf, dass ein Blick hinter die Fassade eines Menschen lohnenswert ist und jeder von uns, der “einen Sprung hat”, diesen aus bestimmten Gründen hat und trotzdem ein Mensch mit Sehnsüchten, Hoffnungen und Träumen ist. Ich bin ab heute ein Simone Lappert-Fangirl!

 
Vielen Dank an Diogenes für dieses Rezensionsexemplar.
 
 
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