|Rezension| Die Verlassenen – Matthias Jügler

von | Mrz 1, 2021 | 0 Kommentare

Intensiver Roman über eine vergessene Generation

Verlag: Penguin
Gebundene Ausgabe: 20,00 Euro
Ebook: 15,99 Euro
Erscheinungsdatum: 01.03.2021
Seiten: 176

„Aber nun, auf dieser Straße, an einem sonnigen Tag im Juni, führten mir diese Erinnerungen auf eine subtile Weise vor Augen, dass es nicht allein darauf ankommt, woran man sich erinnert, sondern auch wann und wo.“ (S.73)

Inhalt

Was würde man lieber vergessen, wenn man könnte? Johannes blickt zurück auf eine ostdeutsche Kindheit, die von feinen Rissen durchzogen war. Der frühe Tod seiner Mutter, das rätselhafte Verschwinden seines Vaters. All seine Fragen dazu blieben unbeantwortet, weshalb er noch als Erwachsener vorsichtig tastend durchs Leben geht. Ein melancholischer Eigenbrötler, der sich in einer stillen Existenz eingerichtet hat. Als Johannes in einer alten Kiste auf einen Brief stößt – adressiert an seinen Vater und abgeschickt nur wenige Tage, bevor dieser den Sohn wortlos verlassen hatte –, verändert dieser Fund nicht nur seine Zukunft, sondern vor allem seine Vergangenheit als Kind der Vorwende-DDR. Seine Erinnerungen sortieren sich neu und mit ihnen sein Blick auf das eigene Leben.

In eindringlicher Dichte und mit kraftvoller Klarheit erzählt Matthias Jügler von Verlust und Verrat, vom Wert des Erinnerns und den drängenden Fragen einer ganzen Generation. Ein warmherziger, leuchtender Roman von außergewöhnlicher sprachlicher Intensität.

Mein Eindruck

Gibt es nicht schon genügend DDR-Romane? Mit Sicherheit! Und ich habe genau aus diesem Grund seit langem keinen mehr gelesen. Was mich an “Die Verlassenen” neugierig gemacht hat, war weniger das “DDR-Thema” als vielmehr die Tatsache, dass jemand, der in meinem Alter ist und deshalb ebenso wie ich nur noch wenig vom Leben in der DDR mitbekommen hat, über dieses Thema schreibt. Außerdem liegt aufgrund der ähnlichen biografischen Eckpunkte von Autor und Protagonist (gleiches Alter, gleicher Geburtsort, Aufenthalt in Norwegen) nahe, dass dieser Roman wohl zumindest in einigen Teilen autobiografisch ist, was ihn für mich noch interessanter machte.

Zuerst: Das ist kein DDR-Roman im klassischen Sinne. Hier geht es weniger um den Transformationsprozess eines Staates als vielmehr um ein Kind, das seine Mutter früh verliert und später auch von seinem Vater von einem Tag auf den anderen ohne Erklärung allein gelassen wird. Dass der Protagonist von beiden Eltern verlassen wird, hat entscheidende Auswirkungen auf sein weiteres Leben. Er wächst bei seiner Oma auf und wie es typisch ist für die Generation unserer Eltern und Großeltern wird innerhalb der Familie Vieles totgeschwiegen. Bis in sein Erwachsenenleben erhält er keine Antwort auf die Frage, warum sein Vater von einem Tag auf den anderen verschwand. Als erwachsener Mann findet er schließlich einen Brief, der mit dem Verschwinden seines Vaters im Zusammenhang zu stehen scheint und beginnt, diese Spur zu verfolgen, mit einem Ergebnis, das nicht nur seine Zukunft, sondern vor allem seine Vergangenheit einschneidend verändert. 

Wie nah der Autor an seinem Protagonisten ist, merkt man auch an den geografischen Details im Buch. Die Beschreibungen von Halle an der Saale, dem Leben in der Platte in der Nachwendezeit und Johannes’ Spaziergängen durch die Stadt können nur von einem Zeitzeugen kommen und schaffen eine authentische Atmosphäre. Als jemand, der 70km weiter südlich ebenfalls an der Saale aufgewachsen ist, fühlte ich mich in seinen Beschreibungen sofort heimisch. 

“Die Verlassenen” ist kein “Sonnenallee”-, oder “Der Turm”-Abklatsch. Matthias Jügler setzt einen völlig neuen Fokus, indem er einen Jungen beim Erwachsenwerden begleitet, der durch äußere Regime-bedingte Umstände eine außergewöhnliche Kindheit und Jugend durchlebt. Es geht hier nicht – wie sonst üblich – um Proteste gegen das DDR-Regime, um Flucht in den Westen oder “Wende-Verlierer”, sondern vielmehr um die Erinnerungen einer Generation, die bisher in der Literatur kaum beachtet wurde, weil sie die DDR nur noch als Kind erlebt und damit kaum noch Erinnerungen an diese Zeit haben. 

Während des Lesens dachte ich immer wieder “Bitte lass diese Geschichte nicht autobiografisch sein!”, weil vor allem die Kindheitserinnerungen des Protagonisten mir sehr an die Nieren gegangen sind. Wie geht man damit um, wenn man vom Vater verlassen wird, nachdem man bereits die Mutter verloren hat? Wie kann man das Verarbeiten, wenn es noch unzählige offene Fragen gibt, die einem niemand beantworten kann? Und was ist, wenn man plötzlich Antworten bekommt, die man lieber nicht gewusst hätte, weil sie die Vergangenheit ändern? Welche Bedeutung haben Erinnerungen?

Matthias Jüglers Erzählstil ist sehr klar und dicht, wodurch dieser Roman vor allem eines ist: intensiv. 

Mein Fazit:

In “Die Verlassenen” gibt Matthias Jügler (s)einer Generation eine Stimme: Er erzählt die Geschichte eines Jungen, der nach dem frühen Tod der Mutter später auch mit dem Verschwinden des Vaters leben muss. Wie diese Erlebnisse sein Leben beeinflussen, schildert der Autor sehr eindringlich. Ich bin sehr beeindruckt von der Intensität der Geschichte, die man nicht mehr vergisst, wenn man sie einmal gelesen hat. 

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