|Rezension| Kleine Fluchten – Carole Fives

von | Mrz 15, 2021 | 0 Kommentare

Über eine Mutter zwischen Fürsorge und Verzweiflung

Originaltitel: Tenir jusqu‘à l’aube
Übersetzung: Anne Braun
Gebundene Ausgabe: 19,00 Euro
Ebook: 14,99 Euro
Erscheinungsdatum: 15.03.2021
Seiten: 144

„Sie hielt den Tagesablauf durch, sie hielt für den Kleinen durch. Doch wenn sich die Nacht ankündigte, konnte sie es kaum erwarten, bis er einschlief, um endlich wieder alles zulassen zu können, ihre Ängste, ihren zurückbehaltenden Ärger.“ (S.82)

Inhalt

Ihr kleiner Sohn ist hübsch, blondgelockt, von allen bewundert. Doch er lässt seiner Mutter keine freie Minute. Der Vater ist abgehauen, die junge Frau hat weder Familie noch Freunde, die sie unterstützen könnten. Auch die Nachbarn, er ist Polizist, sie scheint nicht zu arbeiten, wollen nichts mit ihr zu tun haben. Wenn der Kleine endlich schläft, gönnt sich die junge Mutter kleine Fluchten. Sie verlässt die Wohnung, erst nur ganz kurz, dann immer länger. Bis sie einmal eine ganze Nacht lang wegbleibt, das Kind allein zurück in der Wohnung lässt … Carole Fives’ neuer Roman ist ein unheimliches Leseerlebnis, dem man sich nicht entziehen kann, und er zeigt zugleich, wie schwierig und ausweglos die Lage alleinerziehender Frauen sein kann.

Mein Eindruck

Aufgefallen ist mir dieses dünne Büchlein durch sein wunderschönes Cover und den interessanten Titel “Kleine Fluchten”. Viele Mütter kennen sicher den Impuls, manchmal dem Alltag mit Kind(ern) entfliehen zu wollen und wenigstens mal ein wenig Zeit für sich zu haben. Aktuell (mit Home Schooling, Home Office und einem Tag, der so gut gefüllt ist, dass viele Mutter im Prinzip überhaupt keine Zeit mehr für sich haben, ist dieser Wunsch vermutlich noch ausgeprägter als ohne Pandemie. Deshalb fand ich die Idee einer Geschichte über eine alleinerziehende Mutter, die ihren kleinen Sohn abends immer wieder kurz alleine lässt, um sich kurz mal so zu fühlen, als wäre sie keine alleinerziehende Mutter ohne jegliche Unterstützung eines Vaters oder von Großeltern, sehr interessant.

Der Einstieg in den Roman gelang mühelos. Auffällig war sofort die Distanz der Erzählstimme zur Protagonistin, die immer nur als “Mutter des Kindes” bezeichnet wird und somit namenlos bleibt. Nüchtern und ohne zu bewerten wird die Situation der Mutter geschildert, die einerseits sehr liebevoll für ihren Sohn sorgt, andererseits aufgrund ihrer prekären Situation als selbständige Grafikerin mit spärlicher Auftragslage und der alleinigen Verantwortung für das Leben ihres Sohnes überfordert ist. Sie leidet unter finanzieller Not, unter Schlafmangel, an Vereinsamung und fehlender Unterstützung – sowohl bei der Betreuung ihres Kindes als auch finanziell. Carole Fives schildert all das sehr nüchtern und ohne zu bewerten. Als Leserin schwankte ich immer zwischen “Die arme Mutter!” und “Das kann sie doch nicht machen!” Die Tatsache, dass sie ihr Kind nachts erst für nur wenige Minuten, später immer länger alleine in der Wohnung lässt, bescherte mir während des Lesens so ein Unbehagen, dass ich manchmal nicht weiterlesen wollte und konnte, weil ich irgendein fürchterliches Ende des Romans befürchtet habe.

Gleichzeitig war ich fasziniert wie schonungslos die Autorin auf nur wenigen Seiten (144) die teilweise ausweglose Situation von Alleinerziehenden aufzeigt. Man kann sich dieser Geschichte unmöglich entziehen und wird für das Aushalten des permanenten, latenten  Unbehagens mit einem überraschenden Ende belohnt, das den Roman perfekt abrundet. 

Carole Fives zeigt in ihrer Geschichte, dass Vieles nicht so ist, wie es von außen erscheint. Eine Frau, die ihr Kind unter heftigem Protest vom Spielplatz wegführt, ist keine schlechte Mutter. Gleichzeitig können sich hinter der Wohnungstür einer gut situierten und nach außen harmonisch wirkenden “Vater-Mutter-Kind”-Familie Dinge abspielen, die keiner ahnt. So ist “Kleine Fluchten” gleichzeitig ein Plädoyer gegen Vorverurteilung und für mehr Unterstützung und Verständnis für alleinerziehende Mütter (und Väter).

Mein Fazit:

Mit “Kleine Fluchten” gelingt es Carole Fives ein Thema öffentlich zu machen, das bisher kaum belletristisch verarbeitet wurde: die prekäre Situation von Alleinerziehenden. In einem leichten Erzählstil stellt sie eine alleinerziehende Mutter in den Fokus ihrer Geschichte, die von der Fürsorge für ihr Kind und einem permanent schlechten Gewissen zermürbt wird. Dieser Roman ist keine leichte Kost, aber eine die sich lohnt, weil sie ein wichtiges Thema anspricht, das mehr Aufmerksamkeit verdient. Ich hoffe, dieses Buch lesen nicht nur Alleinerziehende, sondern vor allem die, die es nicht sind.

Vielen Dank an die Hanser Literaturverlage für dieses Rezensionsexemplar.
 
 
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