|Rezension| Lügen, die wir uns erzählen – Anne Freytag

von | Mrz 24, 2024 | 0 Kommentare

Ich liebe, vergöttere, verehre, huldige dieses Buch! 

Verlag: Kampa
Gebundene Ausgabe: 24,00 Euro
Ebook: 18,99 Euro
Erscheinungsdatum: 20.03.2024
Seiten: 384

„Georg und ich haben uns im Laufe der Jahre aufgebraucht. Wie eine Tube Zahnpasta, die man bis auf den letzten Rest ausgequetscht hat. Und dann waren wir leer. Liebe kann man nicht nachkaufen. Wenn sie weg ist, bleibt nur die beißende Erinnerung daran, wie es war, als es sie noch gab. Wie an jemanden, der gestorben ist.” (S.104) 

Inhalt

Helene hätte ihren Mann verlassen sollen. Für Alex. Aber sie hat es nicht getan. Und jetzt hat ihr Mann sie verlassen – weil er sich in eine andere verliebt hat. »Es ist einfach passiert.« Mit diesem Satz zerreißt Georg das Gefüge, das Helene immer versucht hat zusammenzuhalten. Aber vielleicht ist das Ende gar kein Ende? Vielleicht ist es ein Anfang. Etwas, das Helene gebraucht hat, um sich aus dem gesellschaftlichen Korsett zu befreien, aus ihren ewigen Versuchen, den Bildern einer Frau zu entsprechen: als Ehe- und Karrierefrau, als Mutter und Tochter …

Was bedeutet es eigentlich, eine Frau zu sein? Diese Frage begleitet Helene, während sie beginnt, ihren eigenen Weg zu gehen.

Mein Eindruck

In meinem Exemplar von “Lügen, die wir uns erzählen” stecken 27 Klebezettel. 27 Textstellen habe ich markiert, die mir nah gingen, deren Formulierungen mich begeistert haben, in denen ich mich wiedergefunden habe. Normalerweise sind es bei einem guten Buch bei mir im Schnitt etwa 5 markierte Textstellen. Eigentlich sollte das schon als Argument genügen, in den nächsten Buchladen zu stürmen, um sich Anne Freytags Roman zu besorgen. 

Bei Büchern, die ich nicht nur sehr gut fand, sondern die mich regelrecht begeistert haben und die ich als lebensverändernd empfinde, fällt es mir oft schwer, sachlich in Worte zu fassen, woher meine Begeisterung rührt. Ich will es in diesem Fall trotzdem versuchen, allein um Anne Freytags Arbeit zu würdigen, aber natürlich auch, um euch davon zu überzeugen, DASS IHR DIESES BUCH LESEN MÜSST!

Fangen wir mal bei den Basics an: In meinem Bücherregal stehen bereits 9 Bücher von Anne Freytag – allesamt Jugend- bzw. New Adult-Romane. Ja, ich bin ein Anne Freytag-Fangirl der ersten Stunde! Schon immer hat sie mich mir ihrer Art zu schreiben abgeholt. Mit Mitte 20 genauso wie jetzt mit Ende 30. Sie findet wahnsinnig gute Formulierungen für Gefühle, ohne dabei je pathetisch zu sein. Sie schreibt einfühlsam, poetisch und emotional. Immer liegt der Fokus auf den Figuren und deren Reflektionen. Während andere nur an der Oberfläche bleiben, geht sie all in. Alles oder nichts. Den ganzen Schmerz oder keinen. Das schätze ich am meisten an ihrer Literatur. 

Erzählt wird “Lügen, die wir uns erzählen” aus der Perspektive von Helene, Mutter der Teenie-Tocher Anna und des Teenie-Sohnes Jonas, verheiratet mit Georg. Georg hat sich in eine andere Frau verliebt und verlässt Helene, so dass diese gezwungen wird, ihr bisheriges Leben zu überdenken. Die erzählte Zeit wechselt zwischen Gegenwart und Vergangenheit. In der Gegenwart werden einige Kapitel auch aus Annas Sicht erzählt, so dass die Perspektive auf das Familiengefüge um eine weitere weibliche Person erweitert wird.

Überhaupt sind es Frauen mit all ihren Herausforderungen – Kind sein, erwachsen werden, beruflich Fuß fassen, Partnerin sein, Kinderwunsch und Mutter sein, sich dabei nicht aus den Augen verlieren – die im Fokus der Geschichte stehen. Helenes Mutter – Helene – Anna – drei Generationen einer Familie, die geprägt ist von (scheinbarer) Emotionslosigkeit und spürbarer Ablehnung. Anne Freytag arbeitet diese Thematik mit viel Fingerspitzengefühl und Authentizität in ihre Geschichte ein. “So war es oft in meiner Kindheit gewesen. Feindseliges Schweigen nach lautstarken Auseinandersetzungen meiner Eltern. Erst wurde das Essen verteilt, danach die Verletzungen, und am Ende leckte jeder seine Wunden.“ (S.35)

Ab und zu erinnerte ich mich beim Lesen von “Lügen, die wir uns erzählen” an Mareike Fallwickls “Die Wut, die bleibt”. Die Geschichte ist eine ganz andere, aber das Thema ist ähnlich: Was bedeutet es, eine Frau zu sein? Und was geschieht, wenn man immer lieb, nett und angepasst war und es irgendwann nicht mehr sein möchte? Wie geben wir Verhaltens- und Denkmuster an unsere Kinder weiter? Wer dieses Buch mochte, wird auch Anne Freytags Buch lieben und umgedreht. 

Mein Fazit:

Seit langem hat mich kein Roman mehr so berührt wie “Lügen, die wir uns erzählen”. Stellenweise hatte ich das Gefühl, Anne Freytag hätte dieses Buch für mich geschrieben. Vielleicht hat sie das auch. Für mich und alle anderen Frauen (und Männer!), die sich im Laufe ihres Lebens selbst verlieren bzw. überhaupt erst einmal herausfinden müssen “Wer bin ich und was will ich?”. Die Lektüre dieses Romans tut zwischendurch ganz schön weh, hat am Ende aber heilende Wirkung. Danke, Anne!

 
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