|Rezension| Unser letzter Sommer am Fluss – Jane Healey
Your lips, my lips, apocalypse.
„Hast du je das Gefühl (…), dass die Grenze zwischen dir und einer anderen Version von dir nur papierdünn ist? Als müsstest du nur niesen, nur, keine Ahnung, dich nur einmal um dich selbst drehen, und schon lässt du dich auf etwas ein, auf das du dich nicht einlassen solltest? Dass wir alle nur einen Schritt entfernt sind von der schlimmsten Version unserer selbst?“ (S.224)
Inhalt
Juli 1973: Ruth und ihre Freundinnen nennen sich die Ophelia-Girls. Am Fluss stellen sie präraffaelitische Gemälde nach – bis etwas Tragisches passiert. Vierundzwanzig Jahre später zieht Ruth mit der siebzehnjährigen Tochter Maeve und ihrem Mann Alex in ihr einst prachtvolles Elternhaus zurück. Als Stuart, ein Jugendfreund von Ruth, für ein paar Wochen zu Besuch kommt, entflammen eine alte und eine neue Leidenschaft. Wie die viktorianische Villa beginnt die Familienfassade zu bröckeln – und es kommen Dinge ans Licht, die Ruth seit jenem verhängnisvollen Sommer zu vergessen versucht hat.
Mein Eindruck
Ich habe eine ganze Weile gebraucht, um in Jane Healeys Geschichte von den Ophelia-Schwestern hineinzufinden, aber dann, nach ca. 100 Seiten, hatte sie mich. Grund für den schweren Einstieg war die “Ophelia”-Thematik, die mir bis dahin fremd war, im Buch aber auch nicht wirklich erklärt wird.
Es gibt einen Song von “Cigarettes after sex” mit dem Titel “Apocalypse”, in dem es heißt “your lips, my lips, apocalypse”. Damit ist der Inhalt und die Stimmung dieses Romans eigentlich perfekt umschrieben. “Unser letzter Sommer am Fluss” vermittelt durch sein rosafarbenes Cover und den Titel, der ebenfalls seicht anmutet, einen falschen Eindruck vom Inhalt. Dieser ist nämlich alles andere als seicht. Der Roman besteht aus zwei Erzählsträngen, nämlich einem Sommer 1973, in dem Ruth eine Jugendliche war, die gern mit ihren Freundinnen am Fluss berühmte “Ophelia”-Motive fotografisch nachstellte und einem Sommer 30 Jahre später, in dem Ruth mit ihrem Mann, den Zwillingen und ihrer 17-jährigen Tochter Maeve nach dem Tod ihres Vaters wieder in ihr ehemaliges Elternhaus gezogen ist. Erzählt wird die Geschichte abwechselnd aus der Perspektive von Ruth und ihrer Tochter Maeve, so dass sich dem Leser zumindest im Erzählstrang der Gegenwart zwei Perspektiven auf das Geschehene bieten.
Es ist schwer, zu beschreiben, was diesen Roman ausmacht, ohne zu viel vom Inhalt zu verraten. Nur so viel: In beiden Erzählsträngen geht es um ein Begehren, das sich im Verborgenen abspielt und den daraus resultierenden Folgen. In kleinen Schritten führt die Autorin die Leser hin zum Höhepunkt, der Parallelen in den Ereignissen beider Sommer aufdeckt. Dabei gelingt es ihr, eine besondere Atmosphäre zu schaffen. Man spürt förmlich die flirrende Hitze, sieht das alte Haus und die Flusslandschaft vor dem inneren Auge. Auch wie sie ihre Figuren und deren Beziehungen zueinander in den Mittelpunkt rückt, hat mir gut gefallen. Vor allem wie sie das Augenmerk auf die Komplexität von Eltern-Kind-Beziehungen lenkt, ohne Dinge zu beschönigen oder zu bewerten, ist sehr beeindruckend. Es geht um Schuldgefühle, Ängste und Geheimnisse, die die Kluft zwischen den Generationen immer größer werden lassen. Letztlich ist es aber das geheime Verlangen, das alles auf eine Katastrophe hinsteuern lässt.
Mein Fazit:
Jane Healeys Roman “Unser letzter Sommer am Fluss” ist für alle Leser:innen geeignet, die auf subtile Art in einer atmosphärischen Sprache auf eine melancholische Reise geschickt werden wollen, die einen spannenden Blick auf Eltern-Kind-Beziehungen bietet und sich um geheimes Begehren und dessen Folgen dreht. Eine Lektüre, die sich auch gut in der kalten Jahreszeit lesen lässt, weil sie den Sommer zurückholt.