|Rezension| Wenn du mich heute wieder fragen würdest – Mary Beth Keane
Für mich der beste in 2020 erschienene Familienroman
„Sie hatten beide gelernt, dass eine Erinnerung eine Tatsache ist, die so oft gefärbt und zurechtgestutzt und ausgespült worden ist, dass sie für jemand, der dabei war, fast nicht wiederzuerkennen ist.“ (S.371)
Inhalt
Als die Gleesons und die Stanhopes in dieselbe Nachbarschaft ziehen, scheinen die Weichen für ein freundschaftliches Miteinander gestellt, sind die beiden Familienväter zudem Kollegen bei der New Yorker Polizei. Lena Gleeson fühlt sich in der neuen Gegend ein wenig einsam und versucht mit Anne Stanhope Freundschaft zu schließen. Doch deren kühle, distanzierte Art verhindert jeden Kontakt. Erst ihre Kinder bringen die Gleesons und die Stanhopes wieder miteinander in Verbindung. Lenas jüngste Tochter Kate und Annes einziger Sohn Peter sind von Anfang an unzertrennlich. Aber ihre aufkeimende Liebe wird auf eine harte Probe gestellt, als eine Tragödie beide Familien für lange Zeit auseinanderreißt.
Mein Eindruck
Manchmal ist mein Leseverhalten wirklich paradox. Mein Start mit “Wenn du mich heute wieder fragen würdest” ist das beste Beispiel. Ich habe das Buch in der Verlagsvorschau gesehen und dachte “Oh, ein Liebesroman”, las den Klappentext und dachte “Wow, das will ich lesen.” Dann kam das Buch bei mir an und ich….? Ich wollte es nicht mehr lesen. Irgendwie klang es so sehr nach “American Dream” und überhaupt, was ist das denn für ein kitschiger Titel? Also blieb es liegen bis meine Freundin mich nach Lektüre zum Ausleihen fragte und ich ihr aus einem spontanen Impuls dieses Buch mitgab mit der sanften Warnung, dass ich für nichts garantieren kann, weil ich es noch nicht gelesen habe. Ich verleihe eigentlich keine Bücher, die ich selbst noch nicht gelesen habe. Warum ich es bei diesem Roman gemacht habe? Ich kann es nicht begründen, aber Fakt ist: Meine Freundin gab mir das Buch mit den Worten “Das war gut. Das wird dir auch gefallen.” zurück und damit war klar, dass es meine nächste Lektüre wird.
Ich fing an zu lesen, aber die Skepsis blieb zunächst. Zwei junge New Yorker Polizisten, die in den Siebzigern in einen Vorort von New York in zwei benachbarte Häuser ziehen. Will ich sowas wirklich lesen? Nach spätestens 50 Seiten war klar: Oh ja, ich will! Denn dann nimmt die Geschichte Fahrt auf. Schnell wird klar, dass der Fokus hier nicht auf dem beruflichen Alltag der Polizisten und ihren Heldentaten liegt, sondern ihre Familien. Francis und Lena Gleeson ziehen von New York in eine Kleinstadt. Lena fühlt sich dort nicht richtig wohl und freut sich, als Francis Partner Brian Stanhope mit seiner Frau Anne ins Nachbarhaus ziehen. Lena hat bereits zwei kleine Töchter, ist mit dem dritten schwanger und hofft in Anne, ebenfalls schwanger, eine neue Freundin zu finden. Aber Anne verhält sich merkwürdig abweisend, so dass die Familien zwar weiterhin nebeneinander, allerdings nicht miteinander leben. Lediglich die heranwachsenden Kinder Peter Stanhope und Kate Gleeson, die aufgrund ihrer Gleichaltrigkeit und der Nachbarschaft zusammen aufwachsen, haben von Anfang an eine besondere Verbindung zueinander.
Wer jetzt denkt, man bekommt eine seichte Liebesromanze a la “Romeo und Julia” geboten, den muss ich enttäuschen. “Wenn du mich heute wieder fragen würdest” ist anders als der Titel vermuten lässt, alles andere als eine seichte Liebesromanze, auch wenn die Beziehung zwischen Peter und Kate im Zentrum des Romans steht. Vielmehr schreibt Keane hier einen komplexen Familienroman, der durch seine leisen Töne und die brillante Beobachtungsgabe der Autorin besticht. Über mehrere Jahrzehnte begleitet sie die beiden Familien und schaut dabei sehr tief rein in die Seele der Figuren. Peter und Kate stehen dabei natürlich im Fokus, aber auch die Charaktere ihrer Eltern werden eingehend beleuchtet, wobei die Autorin nicht hobbypsychologenmäßig zu ergründen versucht, warum sich die Figuren in bestimmter Art und Weise verhalten, sondern vielmehr dem Leser den Raum lässt, selbst Antworten auf diese Fragen zu finden. Manche Themen, die sie in ihrem Roman bearbeitet, sind alles andere als leicht verdaulich: Alkoholismus, psychische Krankheit, Fehlgeburt, Missbrauch. Deshalb ist “Wenn du mich heute wieder fragen würdest” kein Buch, das man mal eben locker nebenher liest. Teilweise sind die Geschehnisse wirklich schwer verdaulich. Als empathischer Mensch hatte ich Mühe mich von Peter so zu distanzieren, dass mich seine Erlebnisse nicht zu sehr mitnehmen. Gerade hier liegt aber in meinen Augen das Talent der Autorin: Sie hat sehr authentische Figuren geschaffen, die aufgrund ihrer vielschichtigen Charaktere im Kopf bleiben. Die einnehmende, unaufgeregten Sprache der Autorin, die auf Ausschweifungen verzichtet und auch dem Ungesagten Raum lässt, ist in Kombination mit den starken Charakteren pures Lesevergnügen.
Ein letzter Pluspunkt des Romans ist sein Spannungsgehalt: Endlich habe ich mal wieder ein Buch gelesen, bei dem man den Atem anhält und die einzelnen Kapitel “wegsuchtet”. Ganz besonders hoch rechne ich Keane hat, dass sie an einer Stelle des Buches ziemlich am Ende die Wahl hatte, Peter Weg A oder Weg B gehen zu lassen. Ich habe die ganze Zeit gehofft, dass sie ihn nicht Weg A gehen und das Buch damit enden lässt, denn dann wäre die komplette Geschichte für mich hinüber gewesen. Zum Glück hat sie sich für den komplexeren Weg B entschieden (ich entschuldige mich für die Kryptik, möchte aber nicht spoilern), der dem Roman ein gutes Ende beschert, das sowohl authentisch als auch für den Leser befriedigend ist.
Mein Fazit:
Mary Beth Keanes “Wenn du mich heute wieder fragen würdest” ist ein spannungsgeladener und komplexer Familienroman, in dem zentrale Themen wie Liebe, Familie, Einsamkeit, Schuld und Vergebung mit realitätsnahen, starken Charakteren und verschiedenen Problemfeldern verknüpft werden. Für mich ist dieses Buch eins der Highlights unter den 2020 erschienenen Titeln. Ganz klare Leseempfehlung!