|Rezension| Widerrechtliche Inbesitznahme – Lena Andersson

von | März 14, 2017 | 0 Kommentare

 

Ein Roman, der allen unglücklich verliebten Frauen den Spiegel vorhält

 

Verlag: btb
Originaltitel: Egenmägtikt förfarande
Übersetzung: Gabriele Haefs
Taschenbuch: 9,99 Euro
Ebook: 8,99 Euro
Erscheinungsdatum: 12.12.2016
Seiten: 224

 

„Warum begriff sie nicht, dass die abgrundtiefe Angst über eine unbeantwortete SMS jedes Mal dieselbe war und die einzige Möglichkeit, dieser Angst zu entgehen, darin lag, keine zu schicken? Es war die Hoffnung, die das anrichtete, die die Erinnerung an Scham und Angst betäubte und sie dazu brachte, alles darauf zu setzen, dass die Sache jetzt anders war.“ (S.126)

 

Worum geht´s?

Wer verlässt, spürt keinen Schmerz. Wer verlässt, braucht nicht zu reden. Wer verlässt, ist fertig. Das ist der große Schmerz. Wer verlassen wird, muss dagegen bis in alle Ewigkeit reden. Und dieses ganze Gerede ist nur der Versuch, dem anderen zu sagen, dass er sich geirrt hat. Wenn er nur einsähe, wie die Dinge wirklich liegen, würde er sich nicht so verhalten, dann würde er den anderen lieben. Bei dem Gerede geht es nicht darum, sich Klarheit zu verschaffen, was der Redende behauptet, sondern darum, zu überzeugen und zu überreden.«
Ester Nilsson ist 31 Jahre alt. Sie ist Dichterin und Essayistin, eine vernünftige Person mit einer vernünftigen Beziehung. Eines Tages erhält sie den Auftrag, einen Vortrag über den Künstler Hugo Rask zu halten. Im Publikum sitzt der Meister höchstpersönlich, und danach treffen sie sich zum ersten Mal. Dieser Augenblick verändert alles. Eine auf den ersten Blick völlig harmlose, unverbindliche Kommunikation nimmt ihren Anfang, in deren Verlauf es zu einer Kette von Ereignissen kommt, die katastrophal für die liebesblinde Ester enden.

 

Cover und Titel

Sinnlicher kann ein Cover wohl kaum sein: altrosa Töne, die untere Hälfte eines Frauengesichts, in dessen Mittelpunkt die roten Lippen stehen. Damit hebt sich dieser Roman von den üblichen Liebesroman-Motiven ab und macht deutlich “Hey, ich bin kein klassischer Liebesroman”. Verstärkt wird dieser Eindruck durch den sperrigen Titel: “Widerrechtliche Inbesitznahme” ist eigentlich ein Fachbegriff aus dem Juristen-Jargon und damit kein üblicher Titel für einen Roman, der die Liebe zum zentralen Thema hat. Aber genau dieser (scheinbare) Widerspruch macht dieses Buch so interessant und hat mich auf den ersten Blick angesprochen.

 

Mein Eindruck

Bei diesem Roman muss ich gleich mit der Tür ins Haus fallen: Ich habe noch nie einen Roman gelesen, der die Situation einer unglücklich verliebten Frau derart präzise portraitiert. Es ist faszinierend und erschreckend zugleich wie oft man sich als Frau in diesem Buch, in Esthers Gedanken, wiederfindet. Ester, 31 Jahre alt, erfolgreiche Künstlerin, ist die Protagonistin des Romans. Sie ist also kein naiver Teenager, der sich in die erste Liebe völlig unreflektiert reinsteigert, sondern eine erwachsene und intelligente Frau, die trotz ihrer Klugheit und Lebenserfahrung die Augen vor der Realität verschließt. Und ich nehme nicht mehr vorweg als es der Klappentext ohnehin schon tut, wenn ich verrate, dass Esters Gefühle für den Künstler Hugo Rask von diesem nicht so überschwänglich erwidert werden wie von ihr erhofft.

Genau dies ist das zentrale Thema von “Widerrechtliche Inbesitznahme”: Wie verhält sich eine Frau, die große Gefühle für jemanden hegt, dieser jemand aber an keiner ernsthaften Beziehung interessiert ist? Ester leidet. Ester leidet richtig. Nicht klischeemäßig a la “Ich kauf mir eine Großpackung Eis und schimpfe mit meinen Freundinnen über den Typen, der einfach nicht kapiert wie toll ich bin.” sondern sie leidet still. Dass sie mit Hugo Rask auch noch an einen Bilderbuch-Narzissten geraten ist, erschwert die Sache erheblich, denn entgegen eines mitfühlenden Gegenübers, der Ester vermutlich eine klare Ansage machen würde, spielt Hugo mit ihr, um sich selbst geliebt zu fühlen. Ihr Liebeskummer bestimmt Esters Alltag. Sie wartet, interpretiert, interpretiert neu, ist wütend, ist kurz davor sich emotional von ihm zu lösen und dann passiert was? Genau! Er meldet sich, hält ihr den Strohhalm hin, auf den sie so sehnlichst gewartet hat. Und das Spiel geht von vorne los.

Lena Andersson beschreibt dieses Gefühlschaos, diese Verzweiflung und die Neigung eines Verliebten alles zugunsten des Geliebten auszulegen in derart klugen, manchmal schon aphoristisch anmutenden Sätzen, die einen schier den Atem rauben. Jede – und ich meine wirklich JEDE – Frau, die schon mal Liebeskummer aufgrund einer unerwiderten Liebe hatte, wird sich in Esters Verhalten wiedererkennen. Und ich kann konstatieren: Das ist kein Vergnügen. Wie oft dachte ich beim Lesen “Das kann sie doch nicht wirklich glauben!” oder “Nein, du rennst ihm nicht weiter hinterher!”, aber das, was die Autorin da schildert sind genau die Emotionen, die wir Frauen durchleben. WIr klammern uns an jeden Strohhalm, erfinden Ausreden, warum er sich wohl nicht meldet, sind taub für gute Ratschläge (hier in Form des Freundinnenchors, der in regelmäßigen Abständen versucht, Ester die Augen zu öffnen) und glauben auch nach zig Enttäuschungen noch an unser Happy End.

Das großartige an diesem Roman ist die Tatsache, dass Ester ihre Situation stets reflektiert. Das was wir von außen als Demütigung oder Erniedrigung empfinden, ist für Ester allerdings eher eine Form von Mut. Und ich finde, damit hat sie recht. Sie steht zu ihren Gefühlen, offenbart sie und obwohl auch sie große Angst vor einer Enttäuschung hat, wagt sie es immer wieder auf Hugo zuzugehen. Während sie also der Überzeugung ist, dass Hugo schon irgendwann kapieren wird, dass sie zusammengehören, entfernt sich jener immer weiter von ihr, je mehr sie auf ihn zugeht. Wie das Ganze endet, kann man nun spekulieren.

Fakt ist: Lange habe ich nicht mehr so viele Textstellen in einem Roman markiert. Lange habe ich nichts derart Kluges, Unkitschiges über die Liebe gelesen. Jeder, der schon mal Liebeskummer hatte, sollte “Widerrechtliche Inbesitznahme” lesen. Jeder, der gerade Liebeskummer hat, sollte es besser lassen, denn diese Erfahrung ist schon schmerzhaft genug. Man muss dann nicht auch noch den Spiegel vorgehalten bekommen.

Die Fortsetzung des Romans erscheint übrigens  unter dem Titel “Unvollkommene Verbindlichkeiten” (genialer Titel!) im April bei Luchterland. Logisch, dass ich die lesen muss. Ob Ester noch ihr Happy End bekommt?

Mein Fazit:

Lena Anderssons “Widerrechtliche Inbesitznahme” ist definitiv das klügste Buch, das ich je über Liebeskummer gelesen habe. Obwohl die Autorin eine Geschichte erzählt, die so schon tausendfach erzählt wurde, ist dieser Roman anders: Der Schreibstil ist prägnant und anspruchsvoll, die Sprache philosophisch, manchmal gar aphoristisch. Allen voran ist es ein tröstliches Buch, weil es zeigt, dass man mit seinem scheinbar irrationalem Verhalten während einer schlimmen Liebeskummerperiode nicht alleine ist.

 

 

Vielen Dank an den btb Verlag für dieses Rezensionsexemplar.

 

 

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